100 Jahre Deutsche Grammophon

„Stärkster Ton! Lautester Ton! Natürlichster Ton!“

Harte Platten, keine weichen Walzen: Die Deutsche Grammophon feiert hundert Jahre Musik auf Schallplatte

Der Freiherr von Münchhausen eilte der Zeit voraus. Die großen Menschheitsträume geben den Stoff seiner fabulösen Erzählungen; der vom Fliegen gehört dazu und der Wunsch, den Klang der Töne, die Musik festhalten und der Vergänglichkeit entreißen zu können. In Gottfried August Bürgers Schilderung der Abenteuer Münchhausens berichtet der Held von einem russischen Postillion, der auf winterlicher Fahrt mit aller Kraft ins Horn stößt, ohne einen einzigen Ton herauszubringen. Erst im warmen Gasthaus klärt sich das sonderbare Phänomen auf. „Die Töne waren in dem Horn festgefroren und kamen nun, so wie sie nach und nach auftaueten, hell und klar, zu nicht geringer Ehre des Fuhrmannes heraus.“

Rund hundert Jahre später gelang die akustische Fixierung der menschlichen Stimme. Die Wiedergabe von Musik jedoch war mit Thomas Edisons „Sprechmaschine“, dem per Hand betriebenen Phonographen, zwar möglich, aber unbefriedigend: Jede Unregelmäßigkeit bei der Drehung der Wachswalze machte sich als Tonhöhenschwankung jaulend bemerkbar. Erst 1889 wurde der Phonograph mit Elektromotor entwickelt, der eine gleichmäßig rotierende Bewegung erzeugte. Bei jeder Aufnahme konnte nur eine einzige Walze graviert werden, für jede weitere mußte die Stimme erneut aufgenommen werden eine strapaziöse Aufgabe für den Sänger.

Schon 1887 war es in Washington dem Deutsch-Amerikaner Emile Berliner gelungen, eine entscheidende Schwachstelle des Phonographen von Edison zu beheben: Er verwendete statt der empfindlichen Wachswalzen eine plane Scheibe aus Zinkblech, in deren Oberfläche eine Rille geätzt wurde. Diese Schallplatten nutzten sich bedeutend langsamer ab, brauchten weniger Platz als die voluminösen Wachsrollen und ermöglichten eine geräuschärmere Wiedergabe. Mit dem sogenannten Schellack, einem Ausscheidungsprodukt der Lackschildlaus (eigentlich diente er nur als Bindemittel für die Mischung aus feingemahlenen Mineralien, der zur Herstellung einer Schallplatte Ruß für die glänzende schwarze Farbe beigefügt wurde), fand Berliner das für die Serienproduktion geeignete Material. Sein wichtigster Vorteil war die Möglichkeit, Matrizen herzustellen, von denen beliebig viele Pressungen abgenommen werden konnten. Darin, weniger in der von mehreren Erfindern parallel entwikkelten Aufnahmetechnik, liegt Berliners Leistung. Hartnäckig hatte er seine Vision verfolgt, die Schallplatte zum Massenmedium zu entwickeln, und in einem Schuppen der Telephonfabrik, die sein Bruder in Hannover unterhielt, wurden 1898 die ersten Platten in größeren Stückzahlen produziert.

Es war zugleich das Gründungsjahr der Londoner Schallplattenfirma „Grammophone Company“. Sowohl Platten als auch Grammophone ließ sie nicht in London, sondern bei Emile und Joseph Berliner in Hannover fertigen. Am 6. Dezember 1898, auf den Tag genau 21 Jahre nach Edisons erster Vorführung der Sprechmaschine, wurde die Produktionsstätte als „Deutsche Grammophon Gesellschaft“ ins Handelsregister eingetragen. Im Jahr 1901 wurden an dreißig Pressen täglich rund 9 000 Schallplatten hergestellt. Fünf Jahre später waren es an 200 Maschinen bereits 30 000 Platten, monatlich baute die Gesellschaft 250 000 Grammophone. In der „Phonographischen Zeitschrift“ ließ sie verkünden: „Wir offerieren über 5 000 Aufnahmen in allen Sprachen der Welt! Stärkster Ton! Lautester Ton! Natürlichster Ton! Harte Platten keine weichen Walzen!“ Daß mit Lautstärke und Natürlichkeit geworben wurde, jeder Verweis auf Interpret oder Programm der Aufnahme jedoch fehlte, steckt die Erwartungen des Publikums ab: im Vordergrund standen ganz und gar die technischen Möglichkeiten. Darauf beruhte allerdings auch ihr zweifelhafter Ruf, forciert von der Skepsis gegenüber der „Zaubermaschine“, die eher als Jahrmarktssensation bestaunt als ernst genommen wurde.

Der Eintritt in die Sphäre der Kunst gelang der Schallplatte erst, als namhafte Künstler für Aufnahmen gewonnen werden konnten. Anders als heute war dies ein schwieriges Unterfangen. Nur mit Mühe gelang es, den berühmten Fedor Schaljapin zu überreden. Sein Sträuben gründete in der ganz archaischen Angst, durch die Aufnahme zu verstummen, er fürchtete, die Fixierung der lebendigen Stimme sei ein faustischer Pakt, der mit dem Verlust der Stimme bestraft werden könne. Schließlich sagte Schaljapin zu nicht ohne sich vor jeder Aufnahme zu bekreuzigen. Immer soll er darauf bestanden haben, nur eine einzige Schneiddose (sie wandelt Luftschwingungen in Schallrillen um) zu benutzen, die er mit einem Kreuz versehen und beim Papst persönlich hatte segnen lassen.

Der erste Star der Grammophone Company, der zum Ruhm der Schallplatte ebensoviel beitrug wie die Schallplatte zu seinem, war Enrico Caruso. Im März 1903 nahm er zehn Arien auf. Mit dem internationalen Erfolg dieser Aufnahme war der Grundstein für die Interessengemeinschaft zwischen dem Künstler und seiner Plattenfirma gelegt.

Die Deutsche Grammophon hatte sich immer bemüht, wie die große Konkurrentin, die englische EMI, erfolgreiche Konzert- und Opernkünstler als Schallplattenstars aufzubauen. Geraldine Farrar zählte dazu, Nelli Melba und Adelina Patti. Berühmte Geigen- und Klaviervirtuosen finden sich bis in die fünfziger Jahre allerdings nicht in ihrem Katalog; sie zogen Verträge mit der mächtigen und international operierenden EMI vor. Die Deutsche Grammophon war, das wird angesichts des späteren Erfolges gerne übersehen, in diesen Jahren ein seit der Trennung vom Mutterhaus zwar selbständiges, aber vergleichsweise unbedeutendes Unternehmen.

Begeisterung und Skepsis mischten sich weiterhin in der Rezeption von Musik auf Schallplatte. Im Jahr 1924 beschrieb Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ den ungeheuren Effekt, den das Grammophon bei den Patienten von Haus Berghof, vor allem bei Hans Castorp macht. Hofrat Behrens führt den „mattschwarz gebeizten Schrein“ vor: „ein Instrument, das ist eine Stradivarius, eine Guarneri, da herrschen Resonanz- und Schwingungsverhältnisse vom ausgepichtesten Raffinemang“. Das Staunen ist allgemein, Castorp spürt, hier wird Epoche gemacht, er empfindet sogleich die „bestimmteste Ahnung neuer Passion, Bezauberung, Liebeslast“, die physischen Folgen gleichen jenen eines Trinkgelages. Er macht sich zum Kustos sowohl des Grammophons als auch der stattlichen Sammlung von Schallplatten, hundertvierundvierzig an der Zahl. Je weiter er sich in die Welt der Musik vertieft, desto größer gerät die elitäre Distanz zu den übrigen Patienten, immer stärker wird ihm das Hörerlebnis zum Medium einer geistigen Vergegenwärtigung.

Sowohl in Thomas Manns Beschreibung der nächtlichen Hörandachten Castorps als auch der vitalen Reaktionen der übrigen Zuhörer sie lachen, tanzen und klatschen in die Hände schwingen jene Vorurteile mit, die der Schallplatte in bildungsbürgerlichen Kreisen entgegengebracht wurden. Zwar gestattet die unbegrenzte Wiederholbarkeit des Kunsterlebnisses, sich des eigenen kulturellen Besitzes zu vergewissern: auch Castorp hört bevorzugt und allabendlich aufs neue seine Lieblingswerke. Doch der elitäre Anspruch der Musik wird, da sie jedermann jederzeit zugänglich ist, beschädigt, ihr quasi-religiöser Charakter durch Instrumentalisierung auf dem Zauberberg dient sie als aufmunterndes Therapeutikum profaniert, das musikalische Ereignis seiner Einzigartigkeit, des so nie Wiederholbaren beraubt.

Es war gerade die Unterhaltungsfunktion der Schallplatte, die ihren Aufstieg beflügelte, vor allem, weil sie in jedem Etablissement das beliebte Tanzvergnügen ermöglichte. Verkauft wurde sie in Spielzeug- und Fahrradgeschäften. Teure künstlerische Unternehmungen begünstigten diese Jahre nicht. Schallplattenfirmen produzierten, was raschen kommerziellen Erfolg versprach, neben Unterhaltungsmusik vor allem vaterländische Märsche und Hörbilder. Nach dem Zweiten Weltkrieg mußte auch die Deutsche Grammophon wie andere Firmen ganz von vorn beginnen. Energisch revidierte sie ihre Firmenpolitik, strenge Seriosität und Solidität hieß das Credo. Im Gegensatz zu anderen Firmen wie Columbia oder His Master s Voice verbannte man die Unterhaltungsmusik auf ein eigenes Label (Polydor). Das Klassikprogramm sollte sich als Enzyklopädie der abendländischen Kunstmusik lesen. Noch hatte sieht man von Ausnahmen wie Toscanini ab wenig Bedeutung, wer dirigierte, das Interesse an und der Kult um den Interpreten ist ein Phänomen der jüngeren Plattengeschichte.

Es waren die Jahre der Rückbesinnung auf vermeintlich unbelastete Tugenden und Werte, Bildung und Kultur zählten dazu. Verlage brachten günstige Klassiker-Ausgaben auf den Markt, Buchklubs hatten Hochkonjunktur, und zu der Zeit, als es in England noch üblich war, einzelne Platten einer Opernaufnahme zu verkaufen, ließ die Deutsche Grammophon ganze Reihen von Gesamtaufnahmen produzieren und zu Subskriptionspreisen anbieten. Die Einführung des gelben Firmenetiketts mit der stilisierten Tulpenkrone etablierte ein Markenzeichen der Wirtschaftswunderzeit, das bis heute für Tradition und Seriosität steht, obgleich die Deutsche Grammophon ihren Nimbus als Hüter der klassischen Musik auf Schallplatte längst eingebüßt hat.

Denn auch sie ist von der Krise der Branche betroffen. Bislang besaßen neben den sich wandelnden Bedürfnissen der Hörer die technischen Fortschritte entscheidende Schubkraft für die Phonoindustrie, die Einführung der Langspielplatte, die Erfindung der Stereophonie und schließlich die Umstellung auf digitale Datenträger. Seit 1982 hat es keine bahnbrechende technische Entwicklung gegeben. Der Plattenmarkt ist übersättigt allein zweiunddreißig Interpretationen sämtlicher Beethoven-Symphonien sind derzeit lieferbar , auch große Namen garantieren keinen Verkaufserfolg mehr. Um gut 23 Prozent sind die Umsätze in der Klassikbranche seit 1993 gesunken, ihr Heil sucht sie nun im Weg zurück nach vorn: in der Einschränkung der teuren und schlecht absetzbaren Neueinspielungen zugunsten von Dritt- und Mehrveröffentlichungen älterer erfolgreicher Aufnahmen auf „Compilations“, die als gehobene Unterhaltungsmusik gehört werden können. „Adagio“ hieß der Sündenfall der Deutschen Grammophon, eine Zusammenstellung langsamer Sätze, durch nichts verbunden als die Satzbezeichnung und den Dirigenten Herbert von Karajan, mit dem die Deutsche Grammophon den profitabelsten Bund schloß. Die erhoffte Lenkung auf den seriösen Katalog blieb bei diesem und allen nachfolgenden Projekten aus: wer Pavarottis „Nessun dorma“ liebt, kauft deshalb noch lange keine Gesamtaufnahme der „Turandot“. Gehörte die Deutsche Grammophon nicht zum PolyGram Konzern, der mit den „3 Tenören“ Milliarden umsetzt und auf diese Weise unrentable Klassik-Produktionen mit finanzieren kann, die Firma könnte in diesem Jahr kaum so selbstbewußt ihr hundertjähriges Jubiläum feiern.

Heute hat jeder die Möglichkeit, digitale Tondokumente auch aus dem Internet mit eigenem Brenner auf CD zu kopieren, zu lächerlichen Kosten und ohne irgendeinen Qualitätsverlust. Das wird das Monopol der Plattenfirmen brechen. Fast ein Jahrhundert hat deren Macht auf dem technischen Fortschritt beruht; in Zukunft geht davon die größte Gefahr für sie aus.

© 1998 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Berliner Zeitung, 12.12.1998)