Reiners / von Schirnding: Der ewige Brunnen

Tausche „Ring des Polykrates“ gegen „Satz des Pythagoras“

Ludwig Reiners und Albert von Schirnding (Hg.): Der ewige Brunnen – Ein Hausbuch deutscher Dichtung

Ausgerechnet meinem Mathelehrer verdanke ich es, eine beachtliche Zahl von Gedichten auswendig zu können. Das kam so: Für nicht erledigte Hausaufgaben, Frechheiten und besonders abwegige Lösungen mathematischer Probleme mussten wir Schüler je eine Gedichtstrophe auswendig lernen. So fanden in nur einem Schuljahr alle dreiundzwanzig Strophen der „Kraniche des Ibykus“, Hesses „Stufen“ und „Die Moritat von Mäckie Messer“ Platz in meinen Kopf. Der überzeugte Achtundsechziger und fanatische Naturwissenschaftler war sicher, uns damit die schrecklichsten Qualen zu bereiten. Wir aber fanden den Deal fair, trugen einen fröhlichen Wettkampf um das höchste Strafmaß untereinander aus und verinnerlichten nebenbei den merkantilen Charakter der Gesellschaft: Tausche „Ring des Polykrates“ gegen „Satz des Pythagoras“.

Junge Menschen können auf vielerlei Weise den Weg zur Lyrik finden. Durch Zuhören, wenn die Eltern den Tag mit einem vorgelesenen Gedicht beenden. Oder beim eigenen Schmökern. Am besten, im Buchbestand der Familie befindet sich eine zuverlässige Sammlung der wichtigsten und schönsten Gedichte. Dazu muss man nicht gleich eine Bibliothek anschaffen. Denn im C.H. Beck Verlag gibt es eine wunderbare Auswahl in einem Band: „Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung“. Auf über 1.100 Seiten sind hier 1.660 Gedichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart versammelt. Erstmals erschien dieser „Hausschatz“ 1955; zum fünfzigjährigen Jubiläum hat der C.H. Beck Verlag die Auswahl nun um Lyrik der letzten fünf Jahrzehnte ergänzt und dafür einiges Altbackene gestrichen. Beibehalten wurde jedoch, sprachlich sanft modernisiert, die Einteilung in Themenkapitel, „Buch der Liebe“, „Buch der Heiterkeit und des Unsinns“ und „Einsamkeit und Schwermut“ heißen sie zum Beispiel. Das klingt altmodisch, ist es auch, denn der Herausgeber hält unbeirrbar an der ebenso naiven wie enthusiastischen Überzeugung fest, dass es ein „Gedicht für jede Lebenssituation“ gebe, das dem Leser hilft, die verrückte Welt da draußen und die turbulente Innenwelt unserer Seele zu verstehen.

Naiv, ja gut, aber wahr: So mancher Liebeskummer, manche Fünf in Mathe, etliche Niederlagen wurde mit der Lektüre von „Wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nie die kummervollen Nächte auf seinem Bette weinend saß…“ schluchzend, aber getröstet überstanden. Das mag nicht in jedem Moment funktionieren. Aber für die anderen Momente lohnt es sich. Kaufen Sie sich deshalb zwei „Ewige Brunnen“: einen für das eigene Buchregal, und einen in langlebiges Leder gebundenen Band für jemanden, den Sie sehr mögen.

© 2006 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 43, Winter 2006)

Ludwig Reiners und Albert von Schirnding (Hg.): Der ewige Brunnen – Ein Hausbuch deutscher Dichtung. C.H. Beck Verlag, München 2005.