Brahms Violinkonzert op. 77

„Ich bin ohne Anleitung vom Schlechtesten zum Besten gedrungen…“

Das bürgerlich-demokratische Violinkonzert von Johannes Brahms

Der Komponist als Aktionär – das passt nicht in unser romantisches Bild vom mittellosen, oft verkannten musikalischen Genie. Johannes Brahms allerdings war alles andere als arm, sondern ein erfolgreicher Teilhaber verschiedener Unternehmen, der mit seinen Börsenpapieren solide Gewinne erzielte. Nicht gleich von Anbeginn, aber etwa ab der Komposition des „Deutschen Requiems“ im Jahr 1868 erhielt Brahms beachtliche Honorare. Hatte er für seine ersten Werke etwa hundert Mark bekommen, so zahlte ihm der Verleger Simrock für jede seiner Symphonien 15.000 Mark und stellte ihm des weiteren frei, fortan die Honorare selbst festzulegen. Außerdem gelang es Brahms, seine Einkünfte durch Sparsamkeit und geschickte Bankanlagen zu mehren, ja sogar zu einem stattlichen Vermögen zu machen. Der Biograph Max Kalbeck berichtet, Brahms‘ „mit der Zähigkeit eines Sparmeisters ausgeführter und eingehaltener Finanzplan zeichnete sich durch große Einfachheit aus; er bestand in nichts anderem als in der Absicht, die immer ansehnlicher werdenden Verlagshonorare vollständig beiseite zu legen und Zins auf Zins zu kapitalisieren.“ Offensichtlich lag Brahms in erster Linie daran, seinen Besitz zu sichern als ihn durch riskante Anleihen zu vermehren. Über sein Vermögen und den Umgang damit äußerte er sich zu Hermann Levi folgendermaßen: „Ich verdiene, was ich gebrauche. Mit dem liegenden Geld mache ich keinerlei Geschäfte, ich gebrauche es vielleicht niemals für mich, sondern kann es den Meinen hinterlassen. Ich verstehe absolut nichts von Geldsachen, interessiere mich nicht im Geringsten irgend dafür; an eine Vermehrung des Kapitals durch höhere Zinsen habe ich keine Ursache zu denken deshalb nur möchte ich möglichst gar nicht an mein Geld zu denken haben […].“

Brahms darf vermutlich als erster Komponist gelten, der mit seinen Werken ein reicher Mann wurde. Trotz seiner komfortablen Lage lebte er ausgesprochen bescheiden, logierte auf seinen Reisen meist bei Freunden statt in Hotels und Pensionen und aß lieber in deftigen Wiener „Schwemmen“ als in vornehmen Speiselokalen. Im Verhältnis zum Ruhm und der materiellen Anerkennung, die er schon zu Lebzeiten erfuhr, mutet sein alltägliches Dasein beinahe spartanisch an.

Man muss sich wohl die Herkunft des Komponisten vor Augen halten, um seine Entscheidung für diese Lebensweise zu verstehen. Brahms war ein erstaunlicher gesellschaftlicher Aufstieg gelungen: Er war keineswegs in die Klasse geboren worden, in der er sich später bewegte. Die Sphäre der einfachen Handwerker und Händler, in der er aufwuchs, hatte wenig mit jener des gebildeten Großbürgertums gemein, aus der sich seine späteren Zuhörer, Freunde und Verleger rekrutierten. Dieser Tatsache war sich Brahms bewusst, in verschiedenen Lebenszeugnissen hat er an die „Zeit der Dürftigkeit“ erinnert. Seinen Aufstieg verdankte er hauptsächlich, aber nicht ausschließlich seiner Begabung. Durch konsequente Selbstbildung hatte sich der junge Komponist Zugang zu Wissen verschafft, das eine, vielleicht die entscheidende identitätsstiftendes Maxime der bürgerlichen Klasse war. „Ich lege all mein Geld in Büchern an, Bücher sind meine höchste Lust, ich habe von Kindesbeinen an soviel gelesen, wie ich nur konnte, und bin ohne alle Anleitung aus dem Schlechtesten zum Besten gedrungen.“ Die Angst davor, den gesellschaftlichen Status und die erarbeitete materielle Sicherheit wieder zu verlieren, muss eine Antriebskraft seiner Sparsamkeit, Disziplin und seines ungeheuren Fleißes gewesen sein.

Was aber hat dieser lebensgeschichtliche Hintergrund mit dem Violinkonzert op. 77, überhaupt mit dem künstlerischen Werk von Johannes Brahms zu tun? Sehr viel. Denn das junge Selbstbewusstseins des Bürgertums Mitte des 19. Jahrhunderts gründete in der Überzeugung, dass nicht die Geburt, sondern individuelle Leistung den gesellschaftlichen Rang eines Menschen bestimme. Dieses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, in die Fruchtbarkeit harter Arbeit und strenger Disziplin prägt im Fall von Brahms nicht nur die Lebensform, sondern auch den kreativen, den kompositorischen Prozess. Schon die ersten Kritiker und Biographen haben hier einen Zusammenhang vermutet, ohne ihn genauer beschreiben zu können. Sie bemerkten, dass Brahms seine Werke – anders als etwa sein Entdecker und Förderer Robert Schumann – weniger dem Furor der Eingebung, der genialen Idee als vielmehr der soliden, handwerklich-satztechnischen Arbeit verdankte. Brahms selbst hat das Verhältnis von Einfall und Arbeit so beschrieben: „Das, was man eigentlich Erfindung nennt, also ein wirklicher Gedanke, ist sozusagen höhere Eingebung, Inspiration, d.h. dafür kann ich nichts. Von dem Moment an kann ich dies ‚Geschenk‘ gar nicht genug verachten, ich muß es durch unaufhörliche Arbeit zu meinem rechtmäßigen, wohlerworbenen Eigentum machen.“

Bereits der erste Rezensent Eduard Hanslick betonte die komplexe, „gearbeitete“ Struktur des Violinkonzertes op. 77, er nannte es in seiner Konzertkritik aus dem Jahr 1879 ein „Musikstück von meisterhaft formender und verarbeitender Kunst“ und fürchtete, gerade das werde den Zuspruch des Publikums mindern. „Es fehlt [dem Violinkonzert] die unmittelbare verständliche und entzückende Melodie, der nicht bloß im Beginn, sondern im ganzen Verlauf klare rhythmische Fluß, wodurch das Beethovensche und Mendelssohnsche Konzert so einzig wirken. Manche herrliche Gedanken kommen nicht zur vollen Wirkung, weil sie zu rasch verschwinden oder zu dicht umrankt sind von kunstvollem Geflecht.“ Mit dem „kunstvollen Geflecht“ bezeichnet Hanslick das Gegenteil des Genialischen, das kontrapunktisch Konstruierte und also um 1870 „Veraltete“ des Werkes.

Genau darin aber ist wiederum ein „bürgerlicher“ Zug des Brahmsschen Komponierens zu erkennen: der romantischen Originalität eines Wagner und Liszt, ihrem Anspruch an die Musik, Religionsersatz und Welterklärung zu leisten, stand Brahms fern. Für ihn galt es, eine überlieferte Kulturleistung zu bewahren, aus deren Besitz sich das Selbstbewusstsein des Bildungsbürgers speiste. So tastete er sich systematisch zu den „handwerklichen“ Wurzeln der europäischen Musikkultur zurück, zur Polyphonie Palestrinas, zur Bachschen Kontrapunktik und den musikalischen Formen der Wiener Klassik. Erst die Nachwelt, allen voran Arnold Schönberg hat erkannt, dass Brahms mit der Besinnung auf überlieferte Kompositionstechniken, ihrer Kombination und Neubelebung das Tor zur Musik des 20. Jahrhundert öffnete.

Nicht minder fremd war Brahms der romantische Virtuosenwahn: in seinem Violinkonzert steht kein exzentrischer Teufelsgeiger auf der Bühne, sondern ein Musiker, der sich bescheiden in den Kontext des symphonischen Klanges einfügt und am komplexen motivisch-thematischen Geschehen teilnimmt. Man könnte das Violinkonzert auch als Symphonie mit obligater Violine auffassen: Soloinstrument und Orchester stehen einander nicht kontrastierend gegenüber, sondern beteiligen sich gleichberechtigt am musikalischen Verlauf. Pablo de Sarasate hat es deshalb als „Konzert gegen die Violine“ diskreditiert, Claude Debussy meinte gar, das Violinkonzert op. 77 halte das „Monopol der Langeweile“. Die Musikwissenschaft hingegen hat Brahms Gestaltung der Solistenrolle als „bürgerlich-demokratisch“ beschrieben und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.

© 2000 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Programmheft der Berliner Philharmoniker, 2000)