Giuseppe Verdi „Falstaff“

Falstaff oder Das Kichern des göttlichen Narren

Giuseppe Verdi: Falstaff – lyrische Komödie in 3 Akten

I.

Die Sache kommt einem gleich komisch vor. Da hat der Fettwanst Falstaff gerade eine Tracht Prügel kassiert, ist des Betruges überführt und übel beschimpft worden. Und was macht er? Er stellt sich an den Bühnenrand und singt gut gelaunt: „Tutto nel mondo è burla“. Was soll das sein Galgenhumor? Trotz? Und noch etwas verstört: „Alles ist Spaß auf Erden“ beschließt nicht nur die Oper, es sind auch die letzten Worte, die Guiseppe Verdi eine Opernfigur sagen lässt. Mit dieser Erkenntnis verabschiedet sich der Verdi von der Bühne und den Geschöpfen seiner Phantasie. Dürfen letzte Worte so banal sein? So oberflächlich dahinfegen über Leid und Beschwerlichkeit und Enttäuschung des Lebens, die Verdi selbst bitter erfahren hat?

Die Deutungsgeschichte hat sich die Zähne an der Trivialität der Schlussworte ausgebissen, hat tiefenpsychologische, autobiographische, sogar religiöse Erklärungsmuster ausprobiert. Auf deren Grundlage hat sie das berühmte „Tutto nel mondo è burla“ als ultimative Weisheit verstanden und es als Deckel auf Verdis Lebenstopf gesetzt. Dagegen spricht jedoch, dass der Librettist Boito diese Schlußzeilen erst formulierte, als Verdi in der Komposition des „Falstaff“ schon weit fortgeschritten war. Man sollte die berühmte Fabel deshalb als kleinen Teil des großen Rätsels verstehen, das Verdi der Nachwelt mit dem Mysterium Falstaff aufgegeben hat. Seiner Lösung nähert man sich am besten auf dem Wege der Faktengeschichte, mit erster Hilfe des Eindeutigen, Unzweifelbaren.

Eindeutig steht fest: Am Ende seines Lebens, als letztes Werk für die Bühne schreibt Verdi eine Komödie. Ausgerechnet eine Komödie! Dieses späte Interesse für das heitere Genre ist kein Einzelfall in der Musikgeschichte: Leo Janácek schrieb, siebzigjährig, die Fabel „Das schlaue Füchslein“, Richard Strauss im Alter von beinahe achtzig Jahren „Capriccio“. Gemeinsam ist diesen letzten Bühnenstücken die besondere musikalische Raffinesse und der ausgeprägte Gleichnischarakter. Gilt dies auch für Verdi? Bei ihm ist die plötzliche Begeisterung für einen Komödienstoff besonders verblüffend, denn das Genre Komödie war ihm zeitlebens fremd gewesen. Nur eine einzige hat Verdi komponiert, 1840 war das, und der eklatante Misserfolg von „Un giorno di regno“ hinderte ihn vermutlich daran, sich noch einmal im Komischen zu versuchen. Doch als er sein Bühnenwerk längst als vollendet betrachtet, greift jemand in die Geschicke ein. Ihm verdanken wir, dass nicht der tragische Otello, sondern der komische Falstaff die Reihe der Titelhelden Verdis beschließt: Arrigo Boito, Verdis kongenialer Freund und Librettist.

Im Sommer 1889 passiert etwas Merkwürdiges. Boito beschäftigt sich mit „The merry wifes of windsor“ von William Shakespeare, einer Komödie, mit der Verdi nach eigener Auskunft schon „seit fünfzig Jahren“ vertraut ist. Boito entwirft auf dieser Grundlage die Skizze für eine musikalische Komödie und schickt sie dem Komponisten. Verdi ist sofort begeistert. Dabei ist es nicht der Stoff an sich, der Verdi überrascht und ihn inspiriert, den Bleistift noch einmal in die Hand zu nehmen. Sondern das, was Boito daraus macht. „Nun hat Boito mir eine lyrische Komödie gemacht, die keiner anderen ähnlich sieht“, schreibt er. Doch dann überfallen ihn Zweifel, hauptsächlich wegen seiner körperlichen Verfassung. Er ist siebenundsiebzig Jahre alt und nicht besonders gesund. Ein paar Briefe gehen hin und her. Boito sucht ihn zu beruhigen. In seinem Brief vom 9. Juli 1889 trägt er ein neues Argument vor: „Es gibt nur einen Weg, noch besser aufzuhören als mit Otello, und das wäre ein siegreiches Finale mit Falstaff […].“ Dann appelliert er an den Freund: „Beenden Sie Ihre Theaterlaufbahn, nachdem Sie die Bühne von allen nur denkbaren Schreien und Klagen des menschlichen Herzens haben widerhallen lassen, mit einer ungeheuren Explosion des Lachens!“ Zu diesem Zeitpunkt ist Verdi schon längst überzeugt. Noch bevor der Brief den Komponisten erreicht, schreibt dieser am 10. Juli an Boito: „Amen. So sei es. Schreiben wir also diesen Falstaff! Denken wir für einen Moment nicht an Hindernisse, an Alter, an Krankheit!“ Boito hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, hatte genau das ausgesprochen, was Verdi bewegte: die Idee, nach all den Tragödien mit einer „ungeheuren Explosion des Lachens“ von der Theaterbühne abzutreten. Sie muss ihn befeuert, ihn bewegt haben, sich im achten Lebensjahrzehnt noch einmal ans Werk zu machen.

Mit jugendlicher Erregung berichtet Verdi in den folgenden Monaten über den „Schmerbauch“. Dieser Kerl, dieser versoffene Frauenheld Falstaff ist mehr als eine Opernfigur. Verdi spricht über ihn wie über einen Freund, der mal da ist, mal fern bleibt, ihn einmal quält, dann wieder erheitert. „Der Schmerbauch ist auf dem Wege, der zur Verrücktheit führt. Es gibt Tage, an denen er sich nicht rührt, schläft oder schlechter Laune ist; zu anderen Malen schreit, läuft und springt er wie der leibhaftige Teufel… Ich lasse ihn ein bißchen sein Mütchen kühlen, aber wenn er so weitermacht, werde ich ihm einen Maulkorb und eine Zwangsjacke anlegen.“ Diesmal arbeitet Verdi nicht für ein Publikum und, anders als sonst, ohne Vertrag für die Aufführung. Diese Oper schreibt er zu allererst für sich. „Beim Schreiben des Falstaff habe ich weder an Theater noch an Sänger gedacht. Ich habe ihn zu meinem Vergnügen und für mich geschrieben, und ich glaube, statt in der Scala müßte man ihn in S. Agata aufführen“, erklärt Verdi dem Verleger Ricordi. Es ist dieser explizit private Charakter der Komposition, der uns überraschend intime Einblicke in die Gedankenwelt des alten Verdi erlaubt und uns veranlasst, das Werk als persönliches Vermächtnis zu deuten. Hier hält er, zunächst brieflich, dann auch musikalisch Zwiesprache mit Boito und mit sich selbst, ohne Rücksicht auf Publikum und Kritik. In diesem Moment haben die Freunde einen gemeinsamen Gegenstand des persönlichen, zunächst privaten Interesses und Diskurses gefunden.

II.

Einen absurden Helden hat Verdi sich da ausgesucht. Einen Schürzenjäger ohne gleichen, der unter krankhafter Fettsucht leidet. Was für ein komischer Ritter, der sich nicht um die Vermehrung seines materiellen Besitzes sorgt, sondern einzig um den Erhalt seines gewaltigen Leibes. Bloß kein Gramm verlieren! Der dicke Bauch ist sein „Königreich“, nicht Reichtum, sondern enormer Körperumfang machen ihn unwiderstehlich. Darüber können die Frauen von Windsor freilich nur lachen. Aber es ärgert sie auch: wie kann Falstaff ernsthaft glauben, eine von ihnen könnte dem eitlen Fettwanst verfallen? Dem Mann muss eine Lektion erteilt werden, die er nicht vergisst. So kommt die Intrige in Gang, an deren Ende eine kräftige Abreibung für den Dicken steht. Aber Verdi lässt seinen Helden nicht ins Bodenlose fallen. Denn am Schluss der Oper ist Falstaff nicht der einzige Gefoppte. „Tutti gabbati“, heißt es in der Schlussfuge, „lauter Betrogene“. Auf diesem Vers liegt besonderes musikalisches Gewicht. Fenton trägt ihn erst im Pianissimo, leise, als solle es niemand hören, dann stark akzentuiert vor, durch einen verminderten Septimenakkord und eine Generalpause vorbereitet, alle stimmen ein. Derselbe Gedanke steckt auch in der Formel „Tutto nel mondo è burla“: das italienische Verb „burlare“ heißt nämlich neben „erheitern“ auch „betrügen, täuschen“.

Am Ende der Oper könnte auch „So geht es allen“ stehen. Die Frauen hätte es beinahe selbst erwischt. Dr. Cajus bekommt statt der schönen Nannetta den rotnasigen Bardolfo zur Gemahlin, Ford gibt dem ungeliebten Schwiegersohn Fenton versehentlich selbst seine Tochter zur Frau. Und weil alle anderen nicht weniger genarrt wurden als er selbst, ist Falstaff, der das Spiel verliert, kein Verlierer. Boito bewahrt seinen ramponierten Ritter vor jener Deklassierung, die der Titelheld in seinem großen Monolog zu Beginn des dritten Aktes fürchtet. Es wäre ein Irrtum, Falstaff auch nur die Möglichkeit tragischen Scheiterns zu unterstellen. Wer auch die ärgste Niederlage zu seinem Gunsten zu deuten versteht, schwimmt immer oben auf: „Ich bin’s, der Euch witzig macht. Mein Scharfsinn ist’s, der den von anderen erschafft“, sagt er, als er das nächtliche Maskenspiel durchschaut. Den Regeln dreht er eine Nase und schafft sein eigenes Gesetz. Im Betrogenwerden sind alle gleich. Nur einer ist gleicher: Falstaff, der um den großen Weltbetrug weiß.

III.

Immenses Gelächter erschallt am Ende der Oper. Kein Höllengelächter, ganz im Gegenteil, Göttergelächter. Allen voran der dicke Ritter, der sich als weiser Narr wie jene Figuren entpuppt, die das mittelalterliche Jahrmarktsschauspiel der Wandertruppen, die Mundartstücke, das Stegreiftheater bevölkern. Als Boito sich 1889 mit dem Falstaff-Stoff beschäftigte, arbeitete er die Shakespearschen Vorlagen mit den Mitteln der längst historisch gewordenen Commedia dell‘arte zu einer neuen Komödie um. An den einzelnen Figuren lässt sich dieser Prozess deutlich nachvollziehen: Fenton verliert die soziale Fixierung, die er bei Shakespeare besitzt und die dort motiviert, warum Ford ihn als Schwiegersohn ablehnt. Das führt dazu, dass die Liebschaft Nannetta/Fenton bei Boito an individueller Bedeutung verliert und beide Figuren auf den Commedia-Typus der „amati“, der jungen Liebenden, reduziert werden. Pistol und Bardolfo entsprechen bei Boito exakt den Rollenmustern der frechen Diener, des „bravo“ und des „brighella“. Verdi spitzt ihr Profil als Gegensatzpaar durch die Stimmlagenwahl noch weiter zu: Pistol ist der eher komische Baß-Buffo, Bardolfo der stets gereizte Tenor-Buffo. Dr. Cajus hat Boito nach dem Vorbild des dottore einer Comedia dell’arte gezeichnet, Mr. Ford, das einzige Familienoberhaupt der Oper, erhält Züge des Pantalone, freilich ohne dessen Lüsternheit.

Nur Falstaff selbst wird keiner Typisierung unterworfen. Im Gegenteil: gegenüber der Vorlage erfährt die Titelfigur eine differenzierte Charakterisierung. In „The Merry wifes of windsor“ besitzt er diese Seelentiefe nicht. Boito amalgamiert den Windsorschen Ritter mit jener Falstaff-Figur, die in Shakespeares Königsdramen über Henry IV. und Henry V. als liederlicher Freund des jungen Prinzen und späterer Verbannter auftritt. Bereits in der ersten Szene des Libretto greift Boito Redesequenzen aus den Königsdramen auf, darunter Falstaffs nachdenklichen Monolog über die Ehre, dessen Vorlage sich zu Anfang des fünften Aktes von Henry IV. findet. Insgesamt verzichtet Boito nicht nur auf die Hälfte der ursprünglichen dramatis personae, er knüpft auch das Netz der personalen Beziehungen enger und konturiert Falstaff als die zentripetale Kraft des Geschehens: alle Handlung entzündet sich an ihm oder durch ihn. Er versieht Falstaff mit einer charakterlichen Tiefe, die ihn vom übrigen Personal unterscheidet. Deshalb wäre es ganz falsch, Falstaff als Deppen zu betrachten, als tumben und geilen Wüstling, zu dem Figuren wie Ochs von Lerchenau, Don Quichote oder eben Falstaff gelegentlich trivialisiert werden. Darin besteht ja gerade die Quadratur des Kreises, die Boito und Verdi mit dem Falstaff in unerreichter Perfektion gelungen ist: Einen „Typen“ auf die Bühne zu stellen, der zugleich ein „Charakter“ ist.

IV.

Eigentlich ist die Commedia dell‘ arte um 1890 angesichts von Verismo und Naturalismus kein adäquates Mittel der Kunst. Sie zeichnet sich durch normierte Rhetorik, stereotype, entindividualisierte Figuren und ein festes Repertoire an Scherzen und Verwicklungen aus. Damit verkörpert sie das Gegenteil der Dramenkunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts: dort werden ja gerade Einzelschicksale mitsamt ihrer sozialen Verankerung auf die Bühne gestellt. Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum Boito mit Verdis Einverständnis das Inventar der traditionsreichen Stegreifkomödie einsetzt.

Neben dem bereits erwähnten Effekt, Falstaff vom übrigen Personal abzugrenzen, dient die Verwendung der normierten Commedia dell’arte-Rhetorik vor allem dazu, größtmögliche Distanz zwischen dem Betrachter und der Komödie zu schaffen. Über die Empfindungen der Figuren erfährt der Zuschauer wenig, es fällt schwer, mit ihnen zu leiden, sie zu verachten oder zu bewundern. Diese Distanz ermöglicht überhaupt erst den Umschlag der Handlung im dritten Akt, vor allem den ganz und gar unmotivierten Triumph des Falstaff. Jeder erkennt, dass es sich bei dieser absurden Geschichte um ein Gleichnis handeln muss. Gegen alle Regeln der Logik und der Gerechtigkeit steht der Verlierer am Ende als Held da, ausgerechnet ihm fällt die Rolle des Jokers zu, der die Fäden des Ganzen in der Hand hält. Im Leben geht es so nicht. Es geht nur im Spiel und auf dem Theater. „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ heißt es im Prolog zu Schillers „Wallenstein“. Was im Leben unvereinbar ist, kann die Kunst, die Bühne versöhnen, und während das Leben den Schurken an den Galgen hängt, schüttet der sich in der Komödie gemeinsam mit den Feinden vor Lachen aus. Es sind die Möglichkeiten des Theaters, über die Verdi und Boito in ihrem letzten gemeinsamen Werk sprechen. Der „Falstaff“ ist ihre Hymne auf das Theater, auf die Kunst, die das Unmögliche möglich macht, und auf ihre vielfältigen alten und neuen Mittel. Nur sie führt humane Utopien als echte Möglichkeiten vor: wie wäre es, wenn Menschen, die gerade noch Widersacher waren, sich kurzerhand versöhnten, weil sie erkennen, dass in ihren menschlichen Bedingungen am Ende alle gleich sind?

Der Commedia dell’arte-Stil der Oper betont ausdrücklich den Spielcharakter des Erzählten. Als Gleichnis weist die Geschichte aber über sich hinaus. Ist nicht das Leben selbst ein Spiel, eine Komödie, Betrug? Man weiß, dass Boito durch eine Passage aus Shakespeares „Wie es Euch gefällt“ zur Schlussformel „Tutto nel mondo è burla“ inspiriert wurde. Dort heißt es wörtlich: „Die ganze Welt ist eine Bühne“. Auf diesem Welttheater ist der Mensch nicht mehr als ein Schauspieler, der nach einer unsichtbaren Regie agiert. Wie eine Schachfigur in einem Spiel, in dem erstens nichts ist wie es scheint und zweitens alles anders kommt als man denkt. Das italienische Wort „burla“ kann auch mit „Lappalie, Nichtigkeit“ übersetzt werden. Es könnte eine schmerzliche Einsicht sein, dass die Schöpfungskrone Mensch nur ein kleines Glied in der Kette ist, unfähig, die eigene Rolle im großen Welttheater zu verstehen. Dass alles, wovon er überzeugt ist, auch ganz anders sein kann. Und das Streben nach Bedeutung, die ehrgeizigen Wünsche nach Ruhm und Anerkennung nur sinn- und aussichtslose Anstrengungen sind. Aber wäre, wer darum weiß, nicht angstlos und überlegen wie Falstaff, heiter und gelöst und gegen das Verlieren gefeit? Ist nicht der Narr, der sich selbst erkennt, weise wie ein Gott?

© 2000 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: „Das Lächeln der Euterpe“ Publikation zum Zyklus „Musik ist Spaß auf Erden“ des Berliner Philharmonischen Orchesters herausgegeben von Sabine Borris, Parthas Verlag, 12/2000, S. 110-117)