Das Go-Spiel

Das Gleichgewicht der Kräfte

Go ist nicht einfach ein Spiel, es ist eine uralte asiatische Kulturtechnik. Doch es droht eine Beschäftigung der alten Männer zu werden

Hans Pietsch ist zweiunddreißig Jahre alt und lebt vom Spielen. Sein Betätigungsfeld ist etwa fünfzig Zentimeter breit und ebenso lang. Sein Einsatz: ein paar Hände voll schwarze und weiße elliptische Steine. Hans Pietsch ist Go-Profi. Albert Einstein liebte es. Bill Gates macht es gerne und ziemlich gut. Sogar im Weltraum wurde es kürzlich ausprobiert, jenes viertausend Jahre alte Brettspiel, das wie Ginseng, Porzellan und Schwarzpulver aus dem alten China stammt. Und das die meisten nur als asiatisches Spiel mit zwei Buchstaben aus dem Kreuzworträtsel kennen: Go. Kaiser Yao soll in mythischer Zeit seinen Beratern befohlen haben, ein Spiel zu erfinden, das dem schwachen Denkvermögen seines Sohnes auf die Sprünge helfen sollte. Ob die „New York Times“ diese Legende kannte und deshalb dem damaligen Präsidenten George Bush empfahl, sich vor einer Asien-Reise gründlich mit diesem Spiel zu befassen?

Auf dem Go-Brett sind 19 vertikale und ebenso viele horizontale Linien eingezeichnet. Abwechselnd legt ein Kontrahent weiße, sein Gegner schwarze Steine auf einen der 361 Schnittpunkte. Ziel ist, möglichst viele Schnittpunkte mit eigenen Steinen zu umgrenzen – wer am Ende mehr davon hat, gewinnt. Alle Steine haben den gleichen Wert, jeder Spieler darf Steine auf jedem Punkt des Brettes, also auch im Rücken des Gegners, platzieren.

Das hört sich einfach an und lässt sich in fünf Minuten lernen. Je intensiver man sich jedoch mit Go beschäftigt, umso deutlicher erkennt man seine Komplexität. Weit mehr als 700 Stellen hätte die Zahl, die sämtliche mögliche Partien beziffern würde. Daran beißen sich Computer bis heute die Zähne aus. Hinzu kommt, dass Go die unterschiedlichsten Parameter wie Intuition und Logik, Ästhetik und Pragmatik, Instinkt und Strategie verbindet, und nur wenige dieser Verknüpfungen von Computern simuliert werden können. Die eine Million Dollar, die der taiwanesische Industrielle Ing für ein Computerprogramm ausgesetzt hat, das einen mittleren Amateur schlagen könnte, ist jedenfalls noch zu haben.

Go hat in seiner 4.000-jährigen Geschichte ebenso viele Jahre asiatische Denktradition konserviert. Eine Tradition, die alle Lebensbereiche prägt: die Struktur der Gesellschaft, die Maximen persönlichen Handelns und sogar die Strategien von Politik und Wirtschaft. Viele davon sind für Westeuropäer schwer verständlich, manche sogar befremdend. Deshalb musste Hans Pietsch erst einmal lernen, sich in die asiatische Gesellschaft und ihr Denken einzufinden. Pietsch ist der erste und bislang einzige Deutsche, der sein Geld als Go-Profi in Japan verdient. Vor gut zehn Jahren hat ihn das Spiel aus der bürgerlichen Bahn geworfen. Da machte er gerade Zivildienst und wollte anschließend Wirtschaftssinologie studieren. „Ich kannte das Spiel seit ich zehn Jahre alt war“, erzählt Pietsch, „damals waren soziale Kontakte nicht gerade meine Stärke. Am Spielbrett aber funktionierte die Kommunikation. Gleichzeitig fesselte mich die Tiefe des Spiels: je mehr man lernt, umso klarer wird, wie viel man noch nicht weiß. Einmal als Go-Profi zu arbeiten, war damals nur ein völlig illusorischer Traum für mich.“

Tatsächlich deutete nichts auf eine derartige Karriere hin. Zum einen, weil es diesen Beruf in Europa gar nicht gibt. Zum anderen, weil asiatische Go-Profis wie Musiker im Kindesalter mit dem Studium beginnen und schon mit 18 Jahren Profis werden. Bei Besuchen in Japan und Taiwan hatte Pietsch Gelegenheit, seine Spielstärke realistisch einzuschätzen: Am Go-Brett war der Abiturient chancenlos gegen zehnjährige Gegner. Pietsch war zweiundzwanzig, als ihm, wie er sagt, eine fast unheimliche Begegnung mit dem Unvorhersehbaren, dem Schicksal widerfuhr. Bei einem internationalen Go-Turnier lernte er Chizu Kobayashi kennen. Die japanische Fünf-Dan-Spielerin hat es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, Go im westlichen Teil der Welt zu verbreiten. Begeistert vom Talent des jungen Deutschen lud sie ihn ein, zum Go-Studium nach Japan zu kommen.

Es war ein Experiment mit ungewissem Ausgang: nur jeder dritte Insei, so heißen die Profi-Anwärter, schafft nach vielen Jahren des Studiums den Sprung ins Profilager. Und eigentlich war Pietsch viel zu alt für eine derartige Laufbahn. Dennoch. Für ihn war es die ganz große Chance. Zum Schrecken der Eltern legte er das Studium auf Eis, packte kurzentschlossen seine Koffer und siedelte nach Japan über, um seine gesamte Zeit dem Go zu widmen. „Die ersten zwei Jahre wurde mein europäisches Selbstbewusstsein kräftig demontiert. Ich konnte die Sprache nicht und spielte schlechter als die jungen Insei“, sagt Pietsch.

Mittlerweile ist er einer von 470 Profis und genießt das damit verbundene hohe Prestige in der japanischen Gesellschaft. Man muss sich vorstellen, dass viele Firmen in Asien eigene Go-Lehrer für ihre Angestellten finanzieren, dass ein Privatmann geringer Spielstärke etwa 900 Mark für ein dreistündiges Spiel gegen einen Profi ausgeben muss. „In Korea ist es bei mittleren und großen Unternehmen üblich, starke Spieler als Trainer für leitende Angestellte zu engagieren“, erzählt S.M. Jeon. Er ist ein hoher Diplomat, arbeitet am koreanischen Konsulat in Berlin und ist einer der stärksten Go-Spieler in Deutschland. „Bei uns schreiben große Firmen Meisterschaften aus, deren Sieger gut und gerne 300.000 Mark Preisgeld kassieren. Der Ministerpräsident Koreas lädt regelmäßig Go-Profis in seine Residenz ein, andere Politiker und Firmenchefs machen es genauso“, sagt Jeon.

Mehr und mehr setzt sich sowohl in Japan als auch in den USA die Überzeugung durch, beim Go sei nicht nur viel über Asien zu erfahren. Man könne außerdem Strategien lernen, die im Geschäftsleben von Nutzen sind. Der japanische Spitzenmanager Miura Yasayuki, Vizepräsident der Japan Airlines, ist sogar davon überzeugt, dass der wirtschaftliche Erfolg Japans das Resultat derselben elementaren Strategien ist, nach denen auch das Brettspiel funktioniert. In der Tat ist Go, anders als populäre Spiele im Westen, kein Kriegsspiel, sondern ein Businessspiel. Es geht nicht darum, den Gegner zu vernichten. Sondern darum, das etwas größere Stück eines Ganzen zu bekommen, ohne das Gleichgewicht der Kräfte zu zerstören. Dieses Ziel fordert andere Strategien als europäische Spiele, eben solche, die unserem Denken fern, dem asiatischen eigen sind und offensichtlich auch im Wirtschaftsprozess mit Erfolg angewendet werden können.

Das gilt etwa für das Konzept von Effizienz. Im Go lernt der Spieler, mit den vorhandenen Steinen möglichst viele Gebiete zu besetzen, also jeden Stein so effizient wie möglich zu verwenden. In Europa und vor allem in den USA aber haftet dem Begriff ein hautgout von Ausbeutung an: er riecht nach Stellenabbau. Beim Go bedeutet Wettbewerb nicht, alles zu bekommen, dem Gegner nichts zu lassen, sondern einen etwas größeren Teil des Marktes zu erobern. Wer allzu gierig ist, kann leicht alles verlieren.

Lehrreich ist auch der Umgang mit Niederlagen: hat ein Spieler in einer Ecke des Brettes Verluste erlitten, kann er sie in einer anderen problemlos wettmachen. Oft lässt sich aus einem lokalen Verlust an anderer Stelle Nutzen ziehen. Gerade dadurch kann man strategisch lernen, sich rechtzeitig aus einer Misere zurückzuziehen, also: gutes Geld nicht schlechtem hinterherzuwerfen. Andere Aspekte des Spiels verweisen eher auf allgemeine asiatische Tugenden. Ein guter Go-Spieler muss vor allem eines sein: geduldig und ausdauernd. Ein Spiel hat durchschnittlich 250 Züge, schnelle Blitz- oder Überraschungssiege sind unmöglich. Während in unserer Hemisphäre Schnelligkeit und Angriffslust positive Qualitäten sind, gelten der asiatischen Welt Geduld und Beständigkeit als Tugenden. Hinzu kommt, dass man im Westen den Einfluss des Irrationalen in vielen Lebensbereichen so weit wie möglich zurückdrängt. „Wir Asiaten sind hingegen überzeugt, dass unser Leben von Einflüssen bestimmt wird, die wir nicht rational erklären können, und genauso ist es beim Go: unendlich viele Faktoren bestimmen einen Spielablauf“, sagt Jeon. Deshalb nützt das fleißigste Training nichts, wenn man nicht bereit ist, seinen Geist zu öffnen.

„Beim Go gibt es keine Standardsituationen, deren Lösungen trainiert werden könnten. Ein guter Go-Spieler folgt keinen vorgeschriebenen strategischen Mustern, sondern handelt vor allem aus Erfahrung und im Vertrauen auf die Intuition des Augenblicks.

Die Begriffe Intuition und Irrationalität weisen in jene Bereiche, in denen Go seit alters her verwurzelt ist – in die Spiritualität. In der Geschichte des Spieles ist seine Herkunft aus dem Spirituellen und die Verknüpfung mit althergebrachten Tugenden der wichtigste Traditionsstrang. Doch gerade dieser Aspekt verliert derzeit massiv an Bedeutung. Als Spiel der klassischen Tugenden besitzt Go nur noch wenig Attraktivität für den Nachwuchs, es droht besonders in Japan ein Spiel für alte Männer zu werden. Der japanische Go-Verband Nihon Ki-in kämpft energisch gegen den Traditionsschwund an.

„Go ist eine asiatische Kulturtechnik, früher gehörte es wie Musik, Kalligrafie und Zeichnen zur Ausbildung von Heranwachsenden, sagt Toshio Kawamoto von der Überseeabteilung des japanischen Go-Verbandes. „Es ist nicht gut, dass Go an Bedeutung eingebüßt hat. Das göttliche Spiel trainiert Tugenden wie Geduld, Fairness, Vorstellungsvermögen und Scharfsinn. Der Nihon Ki-in bemüht sich daher nach Kräften um die Verbreitung von Go nicht nur in Japan, sondern auch im westlichen Ausland. So wurde vor acht Jahren ein europäisches Go-Zentrum in Amsterdam eingerichtet, außerdem entsendet Nihon Ki-in jährlich Profispieler in verschiedene Länder Europas.

George Bush hatte übrigens während seiner Amtszeit keine Gelegenheit mehr, Go zu spielen. Bevor er das Angebot Miuras, ihm exklusive Lehrstunden zu erteilen, wahrnehmen konnte, wurde ein anderer Mann zum Präsidenten gewählt. Vielleicht wäre sein Auftritt in Japan sonst erfolgreicher verlaufen, als wir ihn in Erinnerung haben: Beim Festbankett mit dem japanischen Ministerpräsidenten Miyazawa brach Bush zusammen und sackte kopfüber auf den Schoß seines Tischnachbarn.

© 2000 Christiane Krautscheid /Albiez (Erstabdruck: Berliner Zeitung, 01.04.2000; auch abgedruckt in Jörg Digulla / Alfred Ebert / Andreas Fecke / Horst Timm: Das Go-Spiel. Eine Einführung in das asiatische Brettspiel. Hebsacker Verlag, Hamburg 2005, S. 108-110.