Nicholas Drayson: Kleine Vogelkunde Ostafrikas

Von tierischen Schneeballwürgern und menschlichen Turteltauben

Wie jedes Jahr empfehlen wir Ihnen auch heuer wieder das perfekte Buchgeschenk für Weihnachten. Diesmal: „Kleine Vogelkunde Ostafrikas“ von Nicholas Drayson. Titel und Covergestaltung führen gekonnt in die Irre, denn nichts ist dieses Buch weniger als ein ornithologisches Sachbuch. Nur die hübschen Zeichnungen zu Beginn jedes Kapitels stellen den Lesern einige besonders prominente gefiederte Buschbewohner Afrikas vor.

Tatsächlich handelt es sich um die heiter-lakonisch erzählte Liebesgeschichte zwischen Mr. Malik, einem schüchternen Nachkommen indischer Einwanderer (seinen Vornamen zu nennen wäre ein Eingriff in seine Intimsphäre!) und der Vogelkundlerin Rose Mbikwa. Seit Jahren nimmt Mr. Malik jeden Dienstag zu nachtschlafender Zeit an den von ihr veranstalteten und geführten Wanderungen zur Vogelbeobachtung teil. Nicht etwa aus Interesse am Getier. Nein, aus ebenso stiller wie flammender Leidenschaft für Rose. Doch plötzlich taucht aus dem Nichts ein Konkurrent in Nairobi auf, der unseren Helden schon zu Schulzeiten quälte: Der Dandy und Frauenschwarm Harry Khan. Wo Mr. Malik Jahre zögerte, greift Khan beherzt zu, und schon am ersten Abend liegt Rose in seinen Armen – vorerst nur beim Tanz.

Schon aus alter Feindschaft tritt der Playboy Khan eine Wette mit Mr. Malik an: Wer von beiden in einer Woche die größere Zahl exotischer Vögel entdeckt, soll Rose zum alljährlichen Huntclub Ball ausführen dürfen. Unter den strengen Augen ihrer Schiedsrichter, den Mitgliedern des überaus distinguierten Herrenclubs „Asadi“, beginnen die beiden Männer einen Wettlauf mit der Zeit. Während Khan keinen Aufwand an technischem Gerät samt Hubschrauber und Schnellboot scheut, setzt Mr. Malik auf Phantasie und seine lange Erfahrung auf der Vogelpirsch. Wer wird gewinnen, ohne zu betrügen?

Der in England geborene Autor Nicholas Drayson lebte einige Jahre in Afrika und ist ausgebildeter Zoologe. Die „Kleine Vogelkunde Ostafrikas“ ist sein zweiter Roman. Über Schneeballwürger, Hagedasche und Paradiesschnäpper erfährt der Leser darin weniger als erwartet, umso mehr aber über menschliche Turteltauben. Drayson erfand Figuren voll hinreißender Skurrilität, die er in die verrücktesten Situationen führt und ihnen doch stets ihre Würde lässt. Ein warmherziger Roman für kalte Winterabende, der den Leser bisweilen laut auflachen lässt.

© 2009 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 55, Sommer 2009)

Nicholas Drayson: Kleine Vogelkunde Ostafrikas. Kindler Verlag / Rowohlt, Reinbek 2008.

Jhumpa Lahiri: Einmal im Leben

Der Liebe und des Meeres Wellen

Es gibt nur wenige Romane unserer Zeit, die auf 170 Seiten eine so kunstvoll verwobene Geschichte von solch dramatischer Wucht erzählen. Jhumpa Lahiri, die indisch-stämmige Pulitzer-Preis-Trägerin, legt mit „Einmal im Leben“ ein überraschendes Meisterwerk vor, das bescheiden daherkommt und den Leser gerade deshalb überwältigt. Wie subtil hier mit Vor- und Rückblenden, mit Motiven und Symbolen gearbeitet wird, wie dicht die Handlung gestrickt und dabei in einfacher Sprache erzählt wird, verdient höchste Bewunderung.

Die Geschichte wird in drei miteinander verflochtene Episoden erzählt. Am Beginn steht ein langer Brief der dreizehnjährigen Hema an ihre Jugendliebe Kaushik angelegt. Die beiden Protagonisten leben mit ihren Familien in Massachusetts, ihre Eltern sind indische Auswanderer, die Glück und Karriere in der amerikanischen Universitätswelt gemacht haben. Eigentlich verbindet die Jugendlichen nichts als die gemeinsamen bengalischen Wurzeln, deren Bedeutung in der neuen Heimat längst zur Folklore verblasst ist. Während der gemeinsamen Monate verliebt sich Hema unsterblich in Kaushik, sie lernt die Konflikte der Erwachsenenwelt kennen und wird zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert.

In der zweiten Episode ergreift Kaushik das Wort. Er ist inzwischen Student und muss versuchen, sich nach dem Tod der Mutter mit der neuen indischen Familie seines Vaters zu arrangieren. Wie schon seine Eltern prägt ihn das Gefühl, zuhause nicht bleiben und woanders nicht ankommen zu können. Auf einer langen Reise entlang des Meeres – einer Metapher für das Trennende, Unversöhnliche –, lässt er das Elternhaus und seine Jugend hinter sich.

Im dritten Teil übernimmt ein allwissender Erzähler den Bericht. Kaushik eilt als Fotojournalist rastlos von einem Krisenherd zum nächsten. Hema steht nach einer langen unglücklichen Beziehung kurz vor einer Vernunftehe. Kann es Zufall sein, dass sie sich in Rom noch einmal begegnen, just im Augenblick eines erneuten Aufbruchs? Hema plant die Rückkehr nach Kalkutta, Kaushik will eine feste Stelle als Redakteur in Hongkong antreten. Erst jetzt, da sich ihre Lebenswege nach zwanzig Jahren erneut berühren, verlieben sie sich heftig ineinander. Das Meer, das sie in all der Zeit symbolisch trennte, führt schließlich die entscheidende Schicksalswende herbei.

Es gibt nur wenige Romane unserer Zeit, die auf 170 Seiten eine so kunstvoll verwobene Geschichte von solch dramatischer Wucht erzählen. Jhumpa Lahiri, die indisch-stämmige Pulitzer-Preis-Trägerin, legt mit „Einmal im Leben“ ein überraschendes Meisterwerk vor, das bescheiden daherkommt und den Leser gerade deshalb überwältigt. Wie subtil hier mit Vor- und Rückblenden, mit Motiven und Symbolen gearbeitet wird, wie dicht die Handlung gestrickt und dabei in einfacher Sprache erzählt wird, verdient höchste Bewunderung.

Die Geschichte wird in drei miteinander verflochtene Episoden erzählt. Am Beginn steht ein langer Brief der dreizehnjährigen Hema an ihre Jugendliebe Kaushik angelegt. Die beiden Protagonisten leben mit ihren Familien in Massachusetts, ihre Eltern sind indische Auswanderer, die Glück und Karriere in der amerikanischen Universitätswelt gemacht haben. Eigentlich verbindet die Jugendlichen nichts als die gemeinsamen bengalischen Wurzeln, deren Bedeutung in der neuen Heimat längst zur Folklore verblasst ist. Während der gemeinsamen Monate verliebt sich Hema unsterblich in Kaushik, sie lernt die Konflikte der Erwachsenenwelt kennen und wird zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert.

In der zweiten Episode ergreift Kaushik das Wort. Er ist inzwischen Student und muss versuchen, sich nach dem Tod der Mutter mit der neuen indischen Familie seines Vaters zu arrangieren. Wie schon seine Eltern prägt ihn das Gefühl, zuhause nicht bleiben und woanders nicht ankommen zu können. Auf einer langen Reise entlang des Meeres – einer Metapher für das Trennende, Unversöhnliche –, lässt er das Elternhaus und seine Jugend hinter sich.

Im dritten Teil übernimmt ein allwissender Erzähler den Bericht. Kaushik eilt als Fotojournalist rastlos von einem Krisenherd zum nächsten. Hema steht nach einer langen unglücklichen Beziehung kurz vor einer Vernunftehe. Kann es Zufall sein, dass sie sich in Rom noch einmal begegnen, just im Augenblick eines erneuten Aufbruchs? Hema plant die Rückkehr nach Kalkutta, Kaushik will eine feste Stelle als Redakteur in Hongkong antreten. Erst jetzt, da sich ihre Lebenswege nach zwanzig Jahren erneut berühren, verlieben sie sich heftig ineinander. Das Meer, das sie in all der Zeit symbolisch trennte, führt schließlich die entscheidende Schicksalswende herbei.

© 2009 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 54, Frühjahr 2009)

Jhumpa Lahiri: Einmal im Leben. Eine Liebesgeschichte. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008.

Monika Maron: Ach Glück

Die Liebe zum Hund, das Streben nach Glück

In reichen Ländern sind die Menschen ständig auf der Suche nach dem Glück. Manche spielen Lotto, andere träumen von einem Prinzen oder lassen sich die Brüste in der Hoffnung auf ein besseres Leben vergrößern. So ergeht es auch der Heldin Johanna in Monika Marons neuem Roman. Die größte Herausforderung ihres gutbürgerlichen Berliner Lebens besteht in der Beantwortung der Frage, in welchem Café das Frühstück eingenommen wird. Kein Wunder, dass sich Frust und Ennui breit machen.

Doch dann platzt an einer Autobahnausfahrt ein verlassener zotteliger Mischlingshund in ihr Leben. Dieser neue Hausgenosse quittiert Johannas Launen mit ergebener Zuneigung – ganz anders als Ehemann Achim, der es sich in den Sphären seiner Kleist-Forschung gemütlich gemacht hat. Es gibt es also, das große Liebesglück – wenn auch nicht zwischen den Eheleuten. Der Hund scheint Johannas träge dahin fließendem Leben frischen Atem einzuhauchen. Sie beginnt eine Affäre mit einem russischen Galeristen (der erwartungsgemäß „Igor“ heißt), findet einen neuen Job und macht sich auf Einladung einer mysteriösen Unbekannten hin sogar auf eine Reise nach Mexiko.

„Ach Glück“ ist die Fortsetzung von Monika Marons Roman „Endmoränen“ (2002), aus dem wir die Figuren und deren Glückssuche schon kennen. Maron zeichnet ihre Heldin Johanna verständnisvoll, aber dieses Mal mit spöttischer Distanz: Gesund und wohl situiert älter zu werden, ist nun mal kein nachvollziehbarer Grund für Depressionen. Und so verliert man sein Leserherz eher an Achim, der sich in seine mittelmäßige, aber annehmliche Existenz fügt und den Aufbruch seiner Frau mit Misstrauen beobachtet. „Jedem Anfang liegt ein Zauber inne“, wusste Hermann Hesse. Johannas Neuanfang liegt vor allem die Notwendigkeit eines Folgeromans inne. Denn „Ach Glück“ endet mit Johannas aufgeregter Ankunft in Mexiko. Ob sie hier findet, was ihr zum Glück fehlt? Das möchte man doch unbedingt wissen.

© 2008 Christiane Krautscheid (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin Sommer 2008)

Monika Maron: Ach Glück. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2007.

Alex Capus: Eine Frage der Zeit

Im kolonialen Dschungelcamp

Wäre die Geschichte nicht hieb- und stichfest verbürgt und in Militärarchiven nachzulesen, man müsste dem Autor einen Hang zur maßlosen Übertreibung vorwerfen. Gut erfunden, lieber Capus, aber allzu absurd! Doch der Schweizer Romancier hält sich weitgehend an historische Fakten und verwebt diese zu einer fesselnden, ziemlich verrückten Erzählung.

„Eine Frage der Zeit“ beginnt im Jahr 1913. Die Gebiete der Kolonialmächte Deutschland und England berühren sich am ostafrikanischen Tanganikasee. Wer die Seehoheit auf diesem Gewässer hat, verfügt über wichtige strategische Vorteile. Aber dazu braucht man vor allem eines: Schiffe.

Auf deutscher Seite erhalten drei brave Papenburger Schiffsbauer den abenteuerlichen Auftrag, das gerade erst fertig gestellte Dampfschiff „Graf Götzen“ in seine Einzelteile zu zerlegen und in 5.000 Kisten verpackt nach Afrika zu verbringen. Fast zeitgleich schlägt in London die Stunde des Oberstleutnant Spicer Simson, eines erfolglosen Hasadeurs und begnadeten Aufschneiders. Die Royal Navy beruft ihn dazu, unter strengster Geheimhaltung zwei Ausflugsschiffe zu Kanonenbooten umzubauen und ins Herz Afrikas zu transportieren. Am Tanganikasee soll er damit die Schiffe der gegnerischen Deutschen versenken. Spicer wittert die Chance auf einen Platz in den Geschichtsbüchern. Es gelingt ihm, seine ungewöhnliche Fracht mit Hilfe von zwei Dampfzugmaschinen, 5.000 afrikanischen Trägern und 500 prachtvollen Ochsen tausende Kilometer von der afrikanischen Küste über die Berge und durch den tropischen Dschungel ans Ziel zu bringen.

Nun liegen sich die verfeindeten Truppen an den Ufern des Sees gegenüber. Die norddeutschen Schiffsbauer haben sich in der Hitze des Dschungels wohlig eingerichtet und Freunde unter den einheimischen Massai gefunden. Doch die afrikanische Idylle endet schlagartig, als in Europa der Krieg ausbricht und die Ingenieure höchst widerwillig ein Teil des deutschen Heeres werden. Die Schiffsbauer setzen alles daran, die Montage der „Graf Götzen“ zu verzögern und so ihren Kriegseinsatz zu sabotieren. Auf der Gegenseite verliert auch Spicer nach ersten Kampferlebnissen die Lust am Krieg. Nach kurzer Zeit teilen die Männer eines, ganz gleich, ob Commander im Auftrag der britischen Krone oder Ingenieur im Dienst des deutschen Kaisers: Die Einsicht in den Irrsinn ihres Tuns.

Diese unglaubliche Geschichte erzählt Capus mit großartigem Sinn für Ironie, Liebe zu seinen sonderlichen Helden und feinem Spott auf die Albernheit des Exerzierens in knietiefem Dschungelschlamm. So ist dieser Roman nicht nur ein herrliches Lesevergnügen, sondern erinnert uns auch daran, dass eine so abstruse Geschichte vor nicht einmal hundert Jahren Wirklichkeit werden konnte.

© 2008 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 50, Frühjahr 2008)

Alex Capus: Eine Frage der Zeit. Knaus Verlag, München 2007.

Wlodzimierz Odojewski: Ein Sommer in Venedig

Der Gondoliere im Waschzuber

Auf nach Venedig! Schon lange freut sich Marek auf diese Reise. Aus den phantastischen Erzählungen seiner Eltern und Tanten von den Plätzen, Kathedralen, den Lagunen und Brücken hat er sich eine Stadt der Träume gebaut und wartet nun sehnsüchtig auf das Abenteuer. Doch als die Abreise näher rückt, zeichnet sich am Horizont das Herannahen des zweiten Weltkrieges ab. Statt gen Süden geht die Fahrt nun ins polnische Hinterland zu Tante Weronika. Nach und nach treffen immer weitere Verwandte ein, Cousinen, Tanten, Mareks Bruder, sie alle finden bei Weronika sichere Zuflucht und heitere Zuversicht. Sie besitzt nicht nur eine prachtvolle Villa samt herrlichem Obstgarten, sondern auch eine blühende Phantasie und einen schwärmerischen Sinn für alles Schöne. So wird ein Wasserschaden im weitläufigen Kellergewölbe kurzerhand zur mirakulösen Thermalquelle erklärt. Und der neunjährige Marek sieht im Sommer 1939 doch noch sein Venedig, ohne auch nur einen Kilometer zu reisen – viel leuchtender, als es in Wirklichkeit je hätte sein können.

Dieser kurze, naiv-tragische Roman ist eine hinreißende literarische Entdeckung. Dem polnischen Autor Wlodimierz Odojewski, Jahrgang 1930, gelingt das Kunststück, glaubwürdig aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen. Wir erleben einen herrlichen Sommer, aber auch den Beginn von Krieg und Flucht mit den wachen Sinnen eines kleinen Jungen, der nichts versteht und doch binnen weniger Wochen erwachsen werden muss. Seine liebevollen Tanten setzen alles daran, den düsteren Ereignissen die Macht des Träumens entgegenzusetzen. „Die Phantasie kann in den allerschrecklichsten Augenblicken eine Zuflucht sein…“, erklärt Tante Weronika und schafft Marek und seinen Cousinen inmitten der bedrohlichen Kulisse eine poetische, von bunten Lampions erleuchtete Idylle. Doch ein Mittel gegen das Erwachsenwerden kennt selbst die tolle Tante nicht.

Unmöglich, von dieser außerordentlichen Erzählung nicht berührt zu sein. Wer noch ein kleines, besonderes sucht, dem sei das schön gestaltete Buch sehr empfohlen.

© 2007 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 49, Winter 2007/08)

Wlodzimierz Odojewski: Ein Sommer in Venedig. SchirmerGraf Verlag. München 2007.

Reiners / von Schirnding: Der ewige Brunnen

Tausche „Ring des Polykrates“ gegen „Satz des Pythagoras“

Ludwig Reiners und Albert von Schirnding (Hg.): Der ewige Brunnen – Ein Hausbuch deutscher Dichtung

Ausgerechnet meinem Mathelehrer verdanke ich es, eine beachtliche Zahl von Gedichten auswendig zu können. Das kam so: Für nicht erledigte Hausaufgaben, Frechheiten und besonders abwegige Lösungen mathematischer Probleme mussten wir Schüler je eine Gedichtstrophe auswendig lernen. So fanden in nur einem Schuljahr alle dreiundzwanzig Strophen der „Kraniche des Ibykus“, Hesses „Stufen“ und „Die Moritat von Mäckie Messer“ Platz in meinen Kopf. Der überzeugte Achtundsechziger und fanatische Naturwissenschaftler war sicher, uns damit die schrecklichsten Qualen zu bereiten. Wir aber fanden den Deal fair, trugen einen fröhlichen Wettkampf um das höchste Strafmaß untereinander aus und verinnerlichten nebenbei den merkantilen Charakter der Gesellschaft: Tausche „Ring des Polykrates“ gegen „Satz des Pythagoras“.

Junge Menschen können auf vielerlei Weise den Weg zur Lyrik finden. Durch Zuhören, wenn die Eltern den Tag mit einem vorgelesenen Gedicht beenden. Oder beim eigenen Schmökern. Am besten, im Buchbestand der Familie befindet sich eine zuverlässige Sammlung der wichtigsten und schönsten Gedichte. Dazu muss man nicht gleich eine Bibliothek anschaffen. Denn im C.H. Beck Verlag gibt es eine wunderbare Auswahl in einem Band: „Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung“. Auf über 1.100 Seiten sind hier 1.660 Gedichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart versammelt. Erstmals erschien dieser „Hausschatz“ 1955; zum fünfzigjährigen Jubiläum hat der C.H. Beck Verlag die Auswahl nun um Lyrik der letzten fünf Jahrzehnte ergänzt und dafür einiges Altbackene gestrichen. Beibehalten wurde jedoch, sprachlich sanft modernisiert, die Einteilung in Themenkapitel, „Buch der Liebe“, „Buch der Heiterkeit und des Unsinns“ und „Einsamkeit und Schwermut“ heißen sie zum Beispiel. Das klingt altmodisch, ist es auch, denn der Herausgeber hält unbeirrbar an der ebenso naiven wie enthusiastischen Überzeugung fest, dass es ein „Gedicht für jede Lebenssituation“ gebe, das dem Leser hilft, die verrückte Welt da draußen und die turbulente Innenwelt unserer Seele zu verstehen.

Naiv, ja gut, aber wahr: So mancher Liebeskummer, manche Fünf in Mathe, etliche Niederlagen wurde mit der Lektüre von „Wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nie die kummervollen Nächte auf seinem Bette weinend saß…“ schluchzend, aber getröstet überstanden. Das mag nicht in jedem Moment funktionieren. Aber für die anderen Momente lohnt es sich. Kaufen Sie sich deshalb zwei „Ewige Brunnen“: einen für das eigene Buchregal, und einen in langlebiges Leder gebundenen Band für jemanden, den Sie sehr mögen.

© 2006 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 43, Winter 2006)

Ludwig Reiners und Albert von Schirnding (Hg.): Der ewige Brunnen – Ein Hausbuch deutscher Dichtung. C.H. Beck Verlag, München 2005.

Frank McCourt: Tag und Nacht und auch im Sommer

Lehrer, Spinner, Storyteller

Oje, ein Lehrer erzählt aus seinem Leben – eine neue Jammer- und Klageschrift? Ganz im Gegenteil. Erzähler dieses Romans ist ein High School Lehrers, der nach dreißig Berufsjahren eher dankbar als frustriert auf die Helden seines Lebens zurückblickt: seine Schüler. Über zwölftausend junge Menschen hat er unterrichtet, von allen Kontinenten dieser Erde, aller Religionen und Hautfarben, aufsässige, eifrige und unerreichbare, solche, die ihn hassten und solche, die ihn mochten, an den schlechtesten und den besten Schulen New Yorks. Drastisch und ironisch schildert er seine Niederlagen und kleinen Triumphe im Klassenzimmer, erzählt von unausstehlichen Schülern und noch unausstehlicheren Eltern, von selbst verfassten Entschuldigungen, Pausenbrotgeschossen, verliebten Teenagern, Prügeleien und all den Abmahnungen, die ihm die Rektoren in dreißig Jahren Laufbahn als Quittung für unkonventionelle Lehrmethoden verpasst haben.

Kein Zweifel, der Mann muss ein miserabler Lehrer gewesen sein. Wann immer er vor der Klasse mit  der englischen Grammatik scheitert, rettet er sich in das Erzählen von Geschichten. Bald bemerkt er, dass auch der rüpelhafteste Schüler sich davon fesseln lässt. So erzählt er von seiner ärmlichen Kindheit im strengkatholischen Irland, der misslungenen Ehe und seiner Flucht in die Pubs, der Zeit als Hafenarbeiter, sogar von peinlichen erotischen Abenteuern. Und damit wären wir auch schon beim genialen Kunstgriff dieses Romans: Indem der Erzähler sein Leben vor den Schülern ausbreitet, erzählt er es uns, seinen Lesern. McCourts neuer Roman ist nichts anderes als der dritte Teil seiner Autobiographie, in dem wir all das nachgereicht bekommen, was er in den ersten beiden Romanen (Die Asche meiner Mutter, 1996, Ein rundherum tolles Land, 2001) verschwiegen hatte. Im Plauderton, mal naiv, mal lakonisch, immer lebendig verwebt er die Stationen seines Lebens geschickt mit den Schilderungen des Schulalltags in New York.

Mit diesem Roman beantwortet McCourt die Frage nach der Herkunft seines großen Könnens. Ganz einfach: Zwölftausend Schüler waren die strengsten Richter seiner Erzählkunst. Was sie fesselte, kann Leser nicht langweilen. So machten ihn unflätige Pubertierende zu jenem grandiosen Geschichtenerzähler, der als Pensionär seinen ersten Roman schrieb und mit diesem aus dem Stand den Pulitzerpreis gewann. Freimütig gibt McCourt zu, dass nur einer in den drei Jahrzehnten seines Lehrerdasein wirklich etwas gelernt hat: Er selbst.

© 2006 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 45, Winter 2006/07)

Frank McCourt: Tag und Nacht und auch im Sommer – Erinnerungen. Luchterhand Literaturverlag, München 2006.

Jeffrey Steingarten: Der Mann, der alles isst

Das Orakel der Schafsgalle

Jeffrey Steingartens kulinarische Enthüllungen

Als der studierte Jurist und Gourmet Jeffrey Steingarten im Jahr 1989 daran ging, sein täglich Brot mit Essen zu verdienen, genauer gesagt, mit Restaurantkritiken für die amerikanische „Vogue“, nahm er sich vor, in Zukunft buchstäblich alles zu essen. Und natürlich darüber zu berichten!

Auf seinen kulinarischen Abenteuerreisen lernte er, die Furcht vor karamellisierten Heuschrecken ebenso zu verlieren wie seinen Hass auf die griechische Küche. Überall besuchte er einheimische Meisterköche und einfache Gastwirte, um von ihnen traditionelle Zubereitungsarten und Geheimtipps über die besten Lokale und Märkte zu erfahren. Fortan erzählte Steingarten sinnliche und komische Geschichten von seinen Reisen rund um den Erdball, den er nach dem perfekten Sauerkraut, den besten Pommes Frites und den köstlichsten Meerestieren absuchte.

Unterwegs erfuhr er, dass man am Geschmack eines Fisches die Art und Weise erkennt, wie derselbe ums Leben kam. Und was die Gallenblase eines Schafes über die Zukunft des Besitzers weissagt. Und warum die Mutter aller Eiscremes aus Sizilien stammt.

Seine Kolumnen, die er in „Der Mann, der alles isst“ versammelt hat, vereinen neben kulturhistorischem Wissen und warenkundlichen Fakten auch Rezepte für den ambitionierten Hobbykoch, dem wie Steingarten keine Garzeit zu lang ist (etwa 11,5 Stunden für ein Coq au vin) und kein Tipp zu abstrus (zum Beispiel der, dass Pommes am besten in Pferdefett frittiert werden sollten).

Ein ganzes Kapitel widmet Steingarten einem Thema, das derzeit auch deutsche Gastrokritiker zu hitzigen Debatten treibt: Die Karriere von Kobefleisch, auf japanisch: Wagyu. Falls Sie in nächster Zeit einmal die Feinkostabteilung des KaDeWe betreten, statten Sie bitte der Fleischtheke einen Besuch ab. Dort kann man seit einiger Zeit das legendäre japanische Rindfleisch in der Kühltheke bewundern, schlappe Euro 199 das Kilo. Das Steak der handmassierten und mit sakegetränktem Getreide gefütterten schwarzen Rinder soll zarter und aromatischer sein als jedes Fleisch, das den Gaumen je berührt hat.

Tatsächlich treibt das tiefrote, wie feinster italienscher Marmor von hauchdünnen weißen Streifen durchzogene und von einem zarten Netz von Fett umgebene Stück dem passionierten Hobbykoch hektische rote Flecken aufs Gesicht. Wie um Himmelswillen brät man ein Steak, das den Gegenwert von zwei Tankfüllungen besitzt? Jeffrey Steingarten hat sich diesem Stress ausgesetzt – und ein Waterloo am heimischen Herd erlebt. Nach dieser Schlappe widmete er die nächste kulinarische Reise Japan und der Entdeckung der richtigen Zubereitung von Wagyu. Wie seine Erkenntnisse in die alltägliche Zubereitung von handelsüblichem Entrecôte eingingen: das liest man am besten selbst in Steingartens wunderbarem Buch nach.

© 2005 Christiane Krautscheid (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 38, Frühjahr 2005)

Jeffrey Steingarten: Der Mann, der alles isst. Zweitausendeins, Hamburg 2004.