„Ich war die Prinzessin mit der Goldkante“

Und lernte: Karneval ist, wenn man Bonbons wirft und trotzdem weint

Damals, im Winter 1983, war ich siebzehn, picklig, flach wie eine Dachlatte und Karnevalsprinzessin in Obereidorf. So hieß unsere Kleinstadt. Sie lag ganz nah bei Köln, der Hochburg des rheinischen Karnevals, und wer die tollen Tage nicht überhaupt dort verbrachte, versuchte in Obereidorf so närrisch zu sein, wie es eben ging. Nur der Zahnarzt und der Direktor des Mädchengymnasiums waren Karnevalsmuffel, beide flüchteten nach Bad Ischl und hielten sich auch sonst vom gesellschaftlichen Leben in Obereidorf fern.

Das gesellschaftliche Leben spielte im Kaninchenzüchter-, Schützen,- Gesangs- und Turnverein. Und natürlich im Festausschuß, der sich das Jahr über mit den Vorbereitungen des Obereidorfer Karnevals beschäftigte. Jeden Montagabend trafen sich seine ausschließlich männlichen Mitglieder, übrigens personalidentisch mit dem Gemeinderat und dem Kirchenvorstand, in der Gaststätte „Zum Halven Hahn“. Hier wurde bei Kölsch und Mettbrötchen die Wagenfolge im Rosenmontagszug und das Prinzenpaar der kommenden Session so heißt im Rheinland die Karnevalszeit ausgeklüngelt.

In jenem Jahr ergab es sich, daß der Kolpingverein sein fünfzigjähriges, die Handwerksinnung ihr hundertjähriges Bestehen feierten und beide beanspruchten, das Prinzenpaar zu stellen. Nach zähen nächtlichen Verhandlungen einigte man sich auf folgenden Kompromiß: Prinzessin wurde die einzige Tochter des Kolpingvereinsvorsitzenden, das war ich. Und zum Prinzen wählte man den ältesten Sohn des Innungsmeisters, Ernst hieß er und ging in meine Klasse.

Ernst war pummelig und zweifacher Sieger bundesweiter Mathe-Olympiaden, hatte störrisches rotes Haar und vorstehende Schneidezähne, vielleicht lachte er deshalb nie. Es war klar, daß Ernst der Erste (und bis heute einzige) alles, was mit seinem Prinzenamt verbunden war, hassen würde, also auch mich. Tatsächlich hat er während der gesamten Session nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen.

Aber noch freute ich mich. Von klein auf war ich mit meinem Vater, Mitglied der Prinzengarde „Blaue Funken“, im Festausschußbus von einem der winzigen Vororte zum nächsten, von einer Karnevalssitzung zur anderen gefahren, mit zotigen Reden, Tanzmariechen und, als Höhepunkt, dem Auftritt des Obereidorfer Prinzenpaares inklusive Prinzengarde und Festausschuß. Ich mußte hinten im Saal warten, durfte Limo trinken und so viel Würstchen mit Kartoffelsalat essen, wie ich konnte.

Leicht kamen acht oder zehn immergleiche Auftritte an einem Abend zusammen: Ankunft im Saal des Schützenheims in Mierscheid, raus aus dem Bus, Einzug des Prinzenpaares, Ansprache des Prinzen, Schunkeln, Auszug, rein in den Bus, weiter nach Seelscheid. Ich liebte die alkoholschwere Luft in den Sälen, die Musik, die Gardisten in ihren historischen blau-weißen Uniformen, am meisten aber das märchenhafte Kostüm Ihrer Herrlichkeit der Prinzessin aus schwerem, schwarzem und goldenem Brokat. Ihrer Herrlichkeit Aufgabe bestand darin, zu winken, lieblich zu lächeln und den jeweiligen Mitgliedern des Elferrates (oft war es aus Personalmangel nur ein Dreier- oder Viererrat) herzhafte Küsse zu verpassen. Der Trick dabei war, den Kopf im letzten Moment zur Seite zu drehen und auf diese Weise dem Zwiebel-Underberg-Atem zu entgehen.

So hatte ich in jenem Winter 1983 ziemlich deutliche Vorstellungen davon, was man von mir erwartete, und, wie gesagt, ich freute mich. Ich würde strahlend Tausende von Orden, Bützjes und Strüßjen (Blechmedaillen, Küsse und Blumensträuße) verteilen, ich war bereit, mein zipperliges Haar zu Korkenzieherlocken zu drehen, die Turnschuhfüße Größe einundvierzig in winzige Lackpumps zu zwängen, jawohl, ich würde beim Prinzenempfang des Bundeskanzlers die Tollste aller Tollitäten sein, Ihre Lieblichkeit Christiane I.

An einem Freitag fand die erste Kostümprobe statt. Mein Prinz und ich wurden in getrennten Räumen (es waren die Klassenzimmer der 4a und 4b der katholischen Grundschule Obereidorf) von den ehrenamtlichen Gewandmeisterinnen angekleidet. Sie befreiten Reifrock, Kleid, Kragencape und Schärpe aus den Plastiksäcken, ich weiß nicht, ob ich vor Kälte zitterte oder vor Ehrfurcht, als mir zwei Paar Hände das Kostüm vorsichtig überzogen. Das Kleid war zu eng und mindestens zwanzig Zentimeter zu kurz. Für meine Vorgängerin, Ihre Anmutigkeit Christine V., war es gekürzt und enger gemacht worden, nun saß es an mir wie eine schwarzgoldene Wurstpelle und endete am Schienbein.

Die Krone erwies sich als viel zu groß und rutschte mir bei jeder Bewegung nach vorne über die Augen, um ziemlich schmerzhaft auf meinem Nasenrücken zu landen, noch heute ist dort eine Delle zu sehen. Zum Schluß kam die Schärpe. Komischerweise stand darauf in goldener Zierschrift „Christine VI.“. Offensichtlich war noch keine Zeit gewesen, eine neue mit meinem klangvollen Namen „Christiane I.“ anzufertigen. Die Gewandmeisterin wand sich verlegen: Wegen der leeren Kassen des Festausschusses und der Ähnlichkeit der Namen habe man sich überlegt, die Schärpe vom letzten Jahr zu benutzen und aus V eine VI zu machen. Daran ließ sich auch nichts mehr ändern, Tausende von Orden mit der Aufschrift „Ihre Tollitäten Christine VI. und Ernst I.“ waren bereits gepreßt.

Ich heulte Rotz und Wasser. Meine Mutter kaufte im Obereidorfer Gardinengeschäft drei Meter Goldbordüre, nähte sie in zwei Bahnen am unteren Saum des Kleides fest und brachte es so auf Knöchellänge. Nun sah es allerdings aus wie eine Ado-Gardine (die mit der Goldkante!), jenes Statussymbol der Siebziger, das weißerrieseweiß den Einblick in westdeutsche Wohnzimmer verhinderte.

Meinem Prinzen erging es kaum besser. Unter den gebauschten kurzen Pluderhosen steckten dickliche Beine in viel zu langen weißen Strumpfhosen, die sich an den Fußknöcheln stauten. Beim Gehen gab es ein komisches Geräusch, wenn seine Oberschenkel in den Polyesterstrümpfen aneinanderrieben. Sein Oberkörper steckte prall im schwarzgoldenen Wams, irgendwie sah er gar nicht wie ein stolzer Prinz aus, eher wie eine riesige Biene Maja. Eins war klar: Wir würden das häßlichste Prinzenpaar in der närrischen Geschichte Obereidorfs sein.

Am Karnevalswochenende 1983 regnete es von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch. Meine Augen tränten vom Schnupfen, vom Rauch in den Sälen und vor Wut über Prinz Ernst, der bei jedem unserer Auftritte die letzte und wichtigste Strophe seiner Ansprache vergaß. Ich versuchte sein Versagen durch allergrößten Liebreiz auszugleichen, doch das änderte nichts daran, daß wir als Ernst der Lustige und ihre Reinlichkeit die Ado-Prinzessin in die närrische Historie Obereidorfs eingingen. Meine Klassenkameradinnen, die bei meiner Proklamation vor Neid grün geworden waren, heuchelten jetzt Mitleid und lachten sich hinter meinem Rücken halbtot über mich und meinen verstockten Biene-Maja-Prinzen.

Nur einmal erwachten die Lebensgeister von Prinz Ernst, das war beim Rosenmontagszug, mit beiden Händen schaufelte er wütend Kamellen (Bonbons), Strüßjen, abgepackte Blut- und Leberwürste (eine Spende der Metzgerinnung) aus unserem Prunkwagen, der den krönenden Abschluß des vier Kilometer langen Zuges bildete. Unser Wagen wurde von meinem Onkel mit dem Trecker gezogen und hatte die Form eines riesigen Blütenkelches. Im letzten Moment versuchte der TÜV Rheinland, dem Gefährt die Starterlaubnis zu verweigern, tatsächlich schwankte der sieben Meter hohe Kelch bedenklich, sobald sich jemand oben auf der Plattform bewegte. Prinz Ernst der Lustige und ich wurden angewiesen, möglichst ruhig an den entgegengesetzten Rändern zu stehen und die je fünf Kilo schweren Bonbonsäcke gleichmäßig zu entleeren. Doch Seiner Lustigkeit Prinz Ernst I. gefiel es, von einem Ende des Wagens zum anderen zu rennen, der Kelch wackelte, hüpfend und mit irrem Lachen winkte Prinz Ernst jetzt seinem närrischen Volk zu. Ich glaube, es war alles ein bißchen viel für ihn.

Zum Prinzenempfang beim Bundeskanzler fuhren wir übrigens nicht mehr, ich schämte mich zu sehr, nicht nur für den übellaunigen Prinz Ernst, sondern auch wegen meiner mittlerweile grünblauen, geschwollenen Nase.

Schon eine Woche später hingen zahllose Bilder im Schaufenster des Obereidorfer Photogeschäfts aus, und jeder konnte sie zur Erinnerung bestellen. Auf den meisten sieht man einen kleinen dicken Prinzen, der mit zusammengebissenen Zähnen auf den Boden starrt. Und eine große, schlaksige Prinzessin, das strahlende Lächeln schmerzverzerrt, die Augen von einer straßbesetzten Krone verdeckt.

© 1998 Christiane Krautscheid (Erstabdruck: Berliner Zeitung, 05.02.1999)