J.S. Bach Cello-Suiten

„Ich seh, wohin ich seh, nur Eitelkeit auf Erden“

Die Cello-Suiten Johann Sebastian Bachs – Zur Kunstauffassung des Barocks

Die Künste des Barocks geben uns Rätsel auf. Während sich die Musik dieser Epoche größter Popularität erfreut und die Architektur des Barocks, ihre Baumeister wie Andreas Schlüter oder Balthasar Neumann ebenso wie die Malerei unsere Bewunderung hervorrufen, verhält es sich mit der Literatur und vor allem der Lyrik ganz anders. Sie ist uns fremd. Wann haben Sie zuletzt ein Gedicht von Andreas Gryphius, Martin Opitz oder Simon Dach gelesen? Wie viele Dichter unseres heutigen Salons sind Ihnen vertraut, einmal abgesehen von Paul Gerhardt, dessen Verse im protestantischen Kirchenlied überdauert haben? Es scheint, als stünde eine unsichtbare Wand zwischen uns und der Dichtkunst des Barocks, die uns daran hindert, unmittelbaren Zugang zu ihr zu finden.

Goethe ist Schuld. Genauer gesagt, jenes revolutionär neue Verständnis von Literatur, das er und die Stürmer und Dränger seiner Generation initiierten. Seit der Geniezeit beherrscht das Erlebnisgedicht die Lyrik und unsere Rezeption von Dichtkunst. Seither sind wir überzeugt, durch Musik, Malerei oder Literatur einen Einblick in die Persönlichkeit ihres Schöpfers zu gewinnen, der darin seine Weltsicht, sein persönliches Empfinden zum Ausdruck bringt. Das Gedicht ist dabei der Ort, an dem sich das Ich des Künstlers besonders unmittelbar ausspricht und intimsten Einblick in das Innenleben seiner Seele gewährt.

Mit diesem Verständnis aber ist der Lyrik des Barocks nicht beizukommen. Jeder Versuch hat ein grobes Missverständnis zur Folge. Denn die Poesie jener Zeit ist eben gerade eines nicht: Gefühlsäußerung. Stattdessen unterliegt die Lyrikproduktion vor allem des Früh- und Hochbarocks strengsten Regeln, wofür ein fest gefügtes System rhetorischer Figuren und tradierter Formen zur Verfügung steht. Keine andere Epoche hat ein so starkes Bedürfnis nach kunstvoller Vollendung der Form hervorgebracht. Auch dann, wenn von irdischen Dingen gesprochen wird, zwingen die Dichter ihre Worte in hochartifizielle Formen. Und auch da, wo Gebrauchslyrik für bestimmte Anlässe – meist im Auftrag wohlhabender Adliger – geschrieben wird, ja selbst in heiteren Scherzgedichten wie jenen von Simon Dach oder Paul Fleming wird diese Verpflichtung nicht aufgegeben.

„Es ist alles eitel auf der Welt“

Die Erklärung findet sich in dem zentralen Gedanken der barocken Dichtung, ja der barocken Lebensauffassung überhaupt. In deren Mittelpunkt steht die Überzeugung, dass alles im Leben vergänglich, „eitel“, das heißt nicht von Dauer sei. Das irdische Leben ist ein Jammertal, das es in festem Vertrauen auf das bessere Jenseits zu durchwandern gilt. Die Umstände der Zeit ließen wohl auch keine andere Haltung zu; viel zu grausam waren die Erfahrungen, denen der Mensch jener Zeit ausgeliefert war. Vier teils lange Kriegsphasen prägten die Epoche zwischen 1600 und 1750, von denen der Dreißigjährige Krieg für die deutschen Länder die verheerendsten Folgen hatte. Der unvorstellbaren Not der einfachen Bevölkerung stand der repräsentative Prunk gegenüber, mit dem die Fürstenhöfe ihre Macht illustrierten. Repräsentiert wurde eine „gottgewollte“ Ordnung und hierarchisch strenge Gliederung der Gesellschaft: der Abstand zwischen Adel und einfachem Volk wurde als irdisches Symbol des Abstands zwischen Gott und den Menschen gerechtfertigt.

Im Rahmen dieser Weltdeutung kann der Mensch nicht im Zentrum stehen. Noch ist das Individuum es nicht wert, sich als Subjekt von Kunst zu äußern, sondern allenfalls Anlass, als Objekt der Betrachtung zur Gottesbetrachtung überzuleiten – gleich der Fliege im Gedicht von Barthold Heinrich Brockes. Für den Barockmenschen muss jede Kunstäußerung über das Gegenständliche hinaus auf das Göttliche zu verweisen, und je perfekter die Gestalt eines Kunstwerks, je vollendeter die Verwendung der Stilmittel, desto erfolgreicher symbolisiert es die Vollkommenheit Gottes. Deshalb spielen die historischen Umstände zwar eine Rolle in der zeitgenössischen Lyrik und kommen auch in den Gedichten des heutigen Abends vor, bei Andreas Gryphius etwa und bei Christian Hoffmann von Hofmannswaldau. Doch sie werden in kunstvolle, regeltreue Verse gefasst, gerade so, als müsse das Schreckliche durch die Form bezwungen und zu Schönheit transzendiert werden.

Die Lektüre eines der wenigen populären Gedichte des Barocks belegt dies eindrucksvoll: „Vanitas, vanitatum, et omnia vanitas“, besser bekannt unter seinem späteren Titel „Es ist alles eitel“ von Andreas Gryphius. Kunstvoll reiht der Dichter darin eine Kette von schroffen Antithesen zwischen Wort und Wort, Vers und Vers, Satzperiode und Satzperiode aneinander. Auf den ersten Blick scheint der Bilderrausch des Gedichts ein hochemotionaler Ausdruck des Entsetzens über die zerstörerischen Kriegsgräuel zu sein. Tatsächlich aber folgt Gryphius mit der Häufung von Metaphern einer aus der Antike überlieferten rhetorischen Figur, der persuasio. Diesem Stilmittel liegt die Annahme zugrunde, dass der Leser zu einer bestimmten Haltung überredet werden muss: Die Reihung von gleichen oder ähnlichen Bildern soll ihm den Grundgedanken des Gedichts, in diesem Fall die Nichtigkeit alles Irdischen, geradezu eintrichtern. Dazu trägt auch der unerbittlich durchgehaltene dreihebige Jambus bei, der erst im letzten Halbvers abrupt auf zwei Hebungen verkürzt wird, so dass dessen Inhalt zum Aufschrei wird. Der erste Satz, der die Vergänglichkeit feststellt, und der letzte Satz, der an das Ewige zu denken gemahnt, bilden die gedankliche Klammer um die rasche Folge von Gegensätzen: Der Mensch ist nichts, Gott ist alles, die Welt ist elend, Gott ist vollkommen.

Allein zum Ruhme Gottes

Die immerwährende Hinwendung zum Schöpfergott liegt auch dem Schaffen Johann Sebastian Bachs zugrunde. „Soli deo gloria“, allein zum Ruhme Gottes wollte er seine Werke schreiben. Das gilt für die geistlichen Kompositionen ebenso wie für die profanen, für Vokalwerke ebenso wie für die Instrumentalmusik. In viele Werke flicht Bach Hinweise auf Gott ein, häufig mit Hilfe der im Barock gebräuchlichen Zahlensymbolik. Diese formelhaften Anspielungen waren dem Hörer seiner Zeit vertraut, wir hingegen werden nicht ohne weiteres erkennen, dass Bach etwa mit der auffallend häufigen Verwendung der Zahl sechs in den Ordnungen seiner Werke – wie in den sechs Sätzen der sechs Cellosuiten – eine Anspielung auf die Anzahl der Schöpfungstage formuliert.

Wenn wir davon ausgehen, dass der barocke Künstler mit der vollendeten Gestalt seines Werkes ein Symbol für göttliche Vollkommenheit schuf, so darf man die Cellosuiten BWV 1007 bis 1012 von Johann Sebastian Bach getrost als tönendes Credo bezeichnen. Niemals zuvor hatte ein Komponist für dieses Instrument Werke von solcher Perfektion, von vergleichbarer harmonischer Komplexität und Polyphonie geschrieben. Wer beim Zuhören die Augen schließt, wird kaum glauben, dass nur ein einziges Soloinstrument gespielt wird. In den sechs Suiten verlangt Bach vom Interpreten spieltechnische Meisterschaft, eine außerordentliche Lagen-, Finger- und Bogentechnik, die Beherrschung von drei- und vierstimmigen Akkorden und hervorragende Fähigkeit zu differenzierter Artikulation. Dabei steigt der Schwierigkeitsgrad von Suite zu Suite, gleich einem „Gradus ad Parnassum“, und damit auch die Fülle an Gestaltungselementen. Vier der Suiten stehen in Dur, zwei in Moll, für die erste und die letzte Suite wählt Bach jeweils eine Kreuztonart. Der Gang durch die Tonarten von Suite zu Suite festigt den Eindruck des „Aufsteigens“ hin zum leuchtenden D-Dur, das nach der barocken Tonartenlehre als Tonart des Lebendigen, Ermunterndem gilt.

Die Idee Bachs, ein Werk solcher Ausmaße für Cello solo zu schreiben, war zu seiner Zeit neu; nur für Violine und Viola da Gamba existierte bereits ein schmales Solorepertoire. Keineswegs neu war hingegen die Form der Suite als Folge von Tanzsätzen aus Allemande, Courante, Sarabande und Gigue. Bach aber gelingt es, innerhalb dieser Vorgaben möglichst große Gestaltungsfreiheit zu entwickeln und die Tradition neu zu interpretieren: Jeder Suite stellte er ein Prélude voran und fügte zwischen die traditionellen Tänze solche ein, die zu seiner Zeit „modern“ waren, wie Menuett, Gavotte und Bourrée.

Schöpfungen aus glücklicher Zeit

Bach schrieb die Cellosuiten in einer Phase, die vielleicht die glücklichste seines Lebens überhaupt war. Mit zweiunddreißig Jahren hatte er im Dezember 1717 die Stelle des Kapellmeisters und Direktors des fürstlichen Collegiums in Köthen übernommen. Dort fühlte sich der Komponist so wohl, dass er hier „seine Lebzeit auch beschließen zu können vermeinete“. Fürst Leopold von Anhalt-Köthen, der bei Bachs Amtsantritt gerade dreiundzwanzig Jahre als war, hatte die Absicht, in Köthen einen Musenhof zu schaffen und vor allem eine hervorragende Hofkapelle aufzubauen. Er engagierte die besten Musiker, viele davon ehemalige Mitglieder der Berliner Hofkapelle, die der Sparsamkeit des Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. zum Opfer gefallen waren. Bachs Aufgabe bestand darin, Werke für abendliche Konzerte und festliche Anlässe zu schreiben, diese mit der Hofkapelle einzustudieren und die Aufführungen zu leiten. Aus der Köthener Zeit stammen neben den Cellosuiten auch die Brandenburgischen Konzerte, die Violin- und Klavierkonzerte, die je sechs Englischen und Französischen Suiten für Cembalo und die sechs Solosonaten für Violine.

Unter den Hofmusikern Leopolds befanden sich zwei exzellente Cellisten. Einer von ihnen war der bedeutende Virtuose Christian Ferdinand Abel, für den Bach die Cellosuiten vermutlich komponierte. Zu Bachs Zeit hatte sich das viersaitige Cello, dessen Saiten in C – G- d- a gestimmt waren, durchgesetzt. Um die klanglichen und technischen Möglichkeiten zu erweitern, ließ Bach bei der fünften Suite die oberste a-Saite auf g herab stimmen. Die sechste Suite D-Dur schrieb er für ein besonderes Cello seiner Zeit: Dieses Instrument besaß eine zusätzliche fünfte Saite in e, das so genannte „Violoncello à cinq cordes“ oder „Viola pomposa“. Damit erweiterte sich der Tonraum des Instruments erheblich und umfasste nun mehr als drei Oktaven. Vom Interpreten, der diese Suite auf einem normalen, viersaitigen Cello spielt (wie Götz Teutsch in unserem heutigen Konzert), verlangt dies allerdings ein außerordentliches Können.

Ist es dieser hohen Schwierigkeit zur Last zu legen, dass die Cellosuiten BWV 1007 bis 1012 nach Bachs Tod über 150 Jahr lang dem großen Publikum verborgen blieben? Im Konzertsaal waren sie praktisch nicht existent, obwohl im 19. Jahrhundert zwölf verschiedene Ausgaben der Werke erschienen, was darauf hinweist, dass sie durchaus von Cellisten studiert und gespielt wurden.

Erst ein glücklicher Zufall führte dazu, dass sie seit nunmehr rund 100 Jahren im Konzert zu hören sind. Zu danken ist das dem Cellisten Pablo Casals. Dieser stieß im Jahr 1890 in einem Musikantiquariat in Barcelona auf eine Ausgabe der Stücke und war sofort fasziniert. Zwölf Jahre studierte er sie, bevor er sie zum ersten Mal im Konzert spielte. In den 1930er Jahren nahm er die Suiten dann als erster auf Schallplatte auf; er selbst bekannte, sich über fünfzig Jahre immer wieder mit diesen Stücken auseinandergesetzt zu haben, ganz ähnlich wie Götz Teutsch, der sie einmal sogar als sein „täglich Brot“ bezeichnet hat. Bei dem Versuch, die schier übermenschlich vollkommene Kunst Bachs in Worte zu fassen, erschien Casals übrigens nur eine Sphäre angemessen: die des Göttlichen. „Das Wunder Bach vollzieht sich in keiner anderen Kunst. Die menschliche Natur aushöhlen, bis sie göttliche Profile empfängt, die Flügel der Ewigkeit der vergänglichen Natur verleihen, die göttlichen Dinge vermenschlichen, die menschlichen Dinge vergöttlichen, das ist das Werk von Bach.“

© 2006 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Programmheft der Berliner Philharmoniker Nr. 74, 28.05.2006)