Musikstadt Mainz

„Musik ist die herrschende Liebhaberey der Mainzer“

Eine Stadt, in der im Jahr über 400 Klassikkonzerte und noch viel mehr Pop- und Jazzkonzerte stattfinden, muss ein guter Platz für einen Musikverlag sein. Tatsächlich: Mit Schott Musik International hat seit 1770 einer der weltweit größten Musikverlage seinen Sitz in Mainz.

Lenkt der Besucher der Mainzer Altstadt seine Schritte von der Augustinerstraße aus durch den Kirschgarten Richtung Südwesten, steht er, einen schmalen Hausbogen durchschreitend, unversehens vor dem zartgelben Patrizierhaus Weihergarten 5, seit 1792 Stammhaus des Verlages Schott. Weit ist die schwere Holztür des Verlagshauses geöffnet und gibt den Blick auf den idyllischen Innenhof mit seinen Springbrunnen und den aus aller Herren Länder mitgebrachten Sträuchern und Bäumen frei.

Hundertzwanzig Fachleute arbeiten hier an den Notenausgaben, Büchern, Zeitschriften und CDs, die anschließend von weiteren sechzig Mitarbeitern vom Außenlager Mainz-Hechtsheim aus in alle Kontinente verschickt werden. Kinder in der ganzen Welt machen die ersten musikalischen Gehversuche mit Noten aus Mainz, Laien und Profis finden bei Schott Noten in höchster Qualität für Beruf oder Hobby. Die wichtigsten zeitgenössischen Komponisten vertrauen dem Verlag jene Werke an, die auf den Konzert- und Opernbühnen der Welt aufgeführt werden. Zum Unternehmen gehören zwei eigene Tonträgerlabels sowie acht Fachzeitschriften, eine eigene Druckerei und ein modernes Vertriebszentrum, von dem aus neben den eigenen Produkten Titel von über sechzig Fremdverlagen verpackt und versandt werden. Insgesamt betreuen heute 250 Mitarbeiter in den Schott-Filialen von Miami über Mainz bis Tokio Produkte rund um die Musik.

Seit 1770 schreibt das Unternehmen in Familienbesitz eine Erfolgsgeschichte in Noten, in der die Stadt Mainz eine wichtige Rolle spielt. Denn ohne das reiche Musikleben in der kurfürstlichen Residenz wäre der rasche Aufstieg des Verlages im ausgehenden 18. Jahrhundert undenkbar gewesen. Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal, der 1774 die Regierung übernahm, liebte wie sein Vorgänger die Künste. Er organisierte die Hofmusik neu, holte hervorragende Musiker an sein Fürstenhaus und ließ jährlich rund 120 öffentliche „Akademien“, so nannte man die Konzerte der Hofkapelle und reisender Musiker, veranstalten. An Publikum mangelte es nicht, denn in Mainz lebten zahlreiche musikliebende Adlige. Viele von ihnen waren nicht nur eifrige Konzertbesucher, sondern musizierten selbst und führten sogar Opern auf.

Für sie alle brauchte es: Noten! Diesen Bedarf machte sich der junge Musiker und Kupferstecher Bernhard Schott aus Eltville zu Nutze, der zeitweise selbst als Klarinettist in der Hofkapelle spielte. Die Kunst des Notenstichs hatte er nicht nur in Deutschland, sondern auch auf Studienreisen im Ausland sorgfältig studiert. Mit Erfolg: Im Jahr 1780 wurde Bernhard Schott vom Kurfürsten zum „Hofmusikstecher“ ernannt und sein junges Unternehmen mit dem „Privilegium exclusivum“ ausgestattet. Nun durfte er als einziger Kupferstecher im Mainzer Kurstaat Noten herstellen. Als Gegenleistung erhielt er die Auflage, von jedem Werk aus seiner Stecherei ein Exemplar kostenlos an den Kurfürsten zu liefern.

Bernhard Schotts Geschäft, in dem neben Noten auch Schreibwaren und Instrumente zu kaufen waren, lief blendend an. Schott besaß, was man heute ein „feeling“ für den Markt nennen würde: Er druckte, was Musiker spielen wollten, was also „populär“ war. Und das waren in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts vor allem Klavierauszüge und Bearbeitungen beliebter Opern und Ballette sowie Sammelbände mit Instrumental- und Gesangsstücken, die für das Musizieren im privaten Kreis geeignet waren. Werke von Haydn, Mozart (darunter die Erstausgaben seiner Opern Don Giovanni und Die Entführung aus dem Serail), Clementi und Pleyel prägen den Katalog der ersten Jahre. Nach der Gründung des Nationaltheaters verlangten die Käufer speziell nach leicht spielbaren Klavierauszügen jener Opern, die gerade am Mainzer Theater gespielt wurden.

Betrachtet man die erhaltenen frühen Publikationen, so zeigt sich, dass der junge Kupferstecher bereits den Grundstein für die noch heute gültige Philosophie des Hauses Schott legte: Von Anfang an hatte er den Ehrgeiz, akkuratere und schönere Notenausgaben herzustellen als seine Konkurrenten in anderen Ländern. So verbreitete sich der Ruf des Verlages rasch weit über die Grenzen des Kurstaates hinaus, und bald ließen auch andere Verleger ihre Werke bei dem begabten Meister stechen. Dieses handwerkliche Können, das einzigartige Stichbild der Noten aus dem Hause Schott ist Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in die Entwicklung der modernen, digitalen Notenherstellung eingeflossen. Und auch die unverwechselbare Form der einzelnen Note blieb erhalten, obgleich längst nicht mehr mit Zinn- oder Kupferplatte und Stempel gearbeitet wird.

Komponisten und Musiker wissen und wussten dies zu schätzen. So gab Beethoven Schott seine Spätwerke in Verlag, darunter die Neunte Sinfonie und die Missa Solemnis. Die um die Wende zum 19. Jahrhundert überaus modernen französischen Komponisten Adolph Adam und Eugene Aubér veröffentlichten ihre Musik ebenso bei Schott wie Franz Liszt und der Mainzer Peter Cornelius. Bald konnten die Nachkommen von Bernhard Schott ihr Unternehmen jenseits der Grenzen des Landes etablieren: 1824 wurde die Niederlassung in Antwerpen eröffnet, die 1834 nach Brüssel umzog, Paris eröffnete 1826, die in London folgte 1835, Leipzig im Jahr 1840. Franz Schott, einem Enkel des Verlagsgründers, gelang 1859 ein wichtiger Coup: Er konnte Richard Wagner für die Zusammenarbeit mit dem Mainzer Verlagshaus gewinnen, so dass Schott (nach Zahlung bis dato unvorstellbarer, gigantischer Vorschüsse) die Tetralogie Der Ring des Nibelungen, außerdem Die Meistersinger von Nürnberg und Parsifal veröffentlichen konnte. Noch heute versammeln sich die Mitarbeiter und Freunde des Hauses bei besonderen Anlässen in jenem fast unverändert erhaltenen kleinen Saal, in dem Wagner vor hunderteinundvierzig Jahren seinem begeisterten Verleger das Textbuch zu den Meistersingern vorlas.

Im Nachhinein erwies es sich als Glücksfall für die weitere Entwicklung des Verlages, dass im Jahr 1874 die Familie Strecker als Nachfolger für die letzten Schott-Erben eintrat. Die neuen Inhaber hatten nicht nur ein untrügliches Gespür für musikalische Qualität, sondern waren auch echte Genies der Freundschaft und banden so Komponisten wie Igor Stravinsky, Carl Orff und Paul Hindemith an den Verlag. Regelmäßig verkehrten weltberühmte Komponisten und Musiker im Mainzer Weihergarten, so wie später, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, György Ligeti, Jean Francaix, Krysztof Penderecki und Hans Werner Henze. Bis heute besuchen Autoren und Komponisten regelmäßig ihren Mainzer Verleger Peter Hanser-Strecker und jene Fachleute, die an der Redaktion und der Herstellung von Noten oder Büchern arbeiten. Sie alle vertrauen darauf, dass ihr künstlerisches Werk in höchster Qualität von Mainz aus Verbreitung in der internationalen Musikwelt findet.

Übrigens trägt zu dem eingangs erwähnten, reichen Angebot klassischer Konzerte in Mainz auch der Schott-Verlag ein wenig bei: Im Innenhof des Hauses Weihergarten 5 finden ein paar Mal im Jahr bis zu 400 Gäste Platz bei den abendlichen Weihergarten Serenaden. Man muss einmal unter der Blütenpracht der japanischen Kirsche der Musik gelauscht haben, dazu ein Glas Wein getrunken und in den Mainzer Himmel geschaut haben, um zu wissen, dass Mainz ein wunderbarer Ort für einen Musikverlag ist.

© Christiane Krautscheid

Das Go-Spiel

Das Gleichgewicht der Kräfte

Go ist nicht einfach ein Spiel, es ist eine uralte asiatische Kulturtechnik. Doch es droht eine Beschäftigung der alten Männer zu werden

Hans Pietsch ist zweiunddreißig Jahre alt und lebt vom Spielen. Sein Betätigungsfeld ist etwa fünfzig Zentimeter breit und ebenso lang. Sein Einsatz: ein paar Hände voll schwarze und weiße elliptische Steine. Hans Pietsch ist Go-Profi. Albert Einstein liebte es. Bill Gates macht es gerne und ziemlich gut. Sogar im Weltraum wurde es kürzlich ausprobiert, jenes viertausend Jahre alte Brettspiel, das wie Ginseng, Porzellan und Schwarzpulver aus dem alten China stammt. Und das die meisten nur als asiatisches Spiel mit zwei Buchstaben aus dem Kreuzworträtsel kennen: Go. Kaiser Yao soll in mythischer Zeit seinen Beratern befohlen haben, ein Spiel zu erfinden, das dem schwachen Denkvermögen seines Sohnes auf die Sprünge helfen sollte. Ob die „New York Times“ diese Legende kannte und deshalb dem damaligen Präsidenten George Bush empfahl, sich vor einer Asien-Reise gründlich mit diesem Spiel zu befassen?

Auf dem Go-Brett sind 19 vertikale und ebenso viele horizontale Linien eingezeichnet. Abwechselnd legt ein Kontrahent weiße, sein Gegner schwarze Steine auf einen der 361 Schnittpunkte. Ziel ist, möglichst viele Schnittpunkte mit eigenen Steinen zu umgrenzen – wer am Ende mehr davon hat, gewinnt. Alle Steine haben den gleichen Wert, jeder Spieler darf Steine auf jedem Punkt des Brettes, also auch im Rücken des Gegners, platzieren.

Das hört sich einfach an und lässt sich in fünf Minuten lernen. Je intensiver man sich jedoch mit Go beschäftigt, umso deutlicher erkennt man seine Komplexität. Weit mehr als 700 Stellen hätte die Zahl, die sämtliche mögliche Partien beziffern würde. Daran beißen sich Computer bis heute die Zähne aus. Hinzu kommt, dass Go die unterschiedlichsten Parameter wie Intuition und Logik, Ästhetik und Pragmatik, Instinkt und Strategie verbindet, und nur wenige dieser Verknüpfungen von Computern simuliert werden können. Die eine Million Dollar, die der taiwanesische Industrielle Ing für ein Computerprogramm ausgesetzt hat, das einen mittleren Amateur schlagen könnte, ist jedenfalls noch zu haben.

Go hat in seiner 4.000-jährigen Geschichte ebenso viele Jahre asiatische Denktradition konserviert. Eine Tradition, die alle Lebensbereiche prägt: die Struktur der Gesellschaft, die Maximen persönlichen Handelns und sogar die Strategien von Politik und Wirtschaft. Viele davon sind für Westeuropäer schwer verständlich, manche sogar befremdend. Deshalb musste Hans Pietsch erst einmal lernen, sich in die asiatische Gesellschaft und ihr Denken einzufinden. Pietsch ist der erste und bislang einzige Deutsche, der sein Geld als Go-Profi in Japan verdient. Vor gut zehn Jahren hat ihn das Spiel aus der bürgerlichen Bahn geworfen. Da machte er gerade Zivildienst und wollte anschließend Wirtschaftssinologie studieren. „Ich kannte das Spiel seit ich zehn Jahre alt war“, erzählt Pietsch, „damals waren soziale Kontakte nicht gerade meine Stärke. Am Spielbrett aber funktionierte die Kommunikation. Gleichzeitig fesselte mich die Tiefe des Spiels: je mehr man lernt, umso klarer wird, wie viel man noch nicht weiß. Einmal als Go-Profi zu arbeiten, war damals nur ein völlig illusorischer Traum für mich.“

Tatsächlich deutete nichts auf eine derartige Karriere hin. Zum einen, weil es diesen Beruf in Europa gar nicht gibt. Zum anderen, weil asiatische Go-Profis wie Musiker im Kindesalter mit dem Studium beginnen und schon mit 18 Jahren Profis werden. Bei Besuchen in Japan und Taiwan hatte Pietsch Gelegenheit, seine Spielstärke realistisch einzuschätzen: Am Go-Brett war der Abiturient chancenlos gegen zehnjährige Gegner. Pietsch war zweiundzwanzig, als ihm, wie er sagt, eine fast unheimliche Begegnung mit dem Unvorhersehbaren, dem Schicksal widerfuhr. Bei einem internationalen Go-Turnier lernte er Chizu Kobayashi kennen. Die japanische Fünf-Dan-Spielerin hat es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, Go im westlichen Teil der Welt zu verbreiten. Begeistert vom Talent des jungen Deutschen lud sie ihn ein, zum Go-Studium nach Japan zu kommen.

Es war ein Experiment mit ungewissem Ausgang: nur jeder dritte Insei, so heißen die Profi-Anwärter, schafft nach vielen Jahren des Studiums den Sprung ins Profilager. Und eigentlich war Pietsch viel zu alt für eine derartige Laufbahn. Dennoch. Für ihn war es die ganz große Chance. Zum Schrecken der Eltern legte er das Studium auf Eis, packte kurzentschlossen seine Koffer und siedelte nach Japan über, um seine gesamte Zeit dem Go zu widmen. „Die ersten zwei Jahre wurde mein europäisches Selbstbewusstsein kräftig demontiert. Ich konnte die Sprache nicht und spielte schlechter als die jungen Insei“, sagt Pietsch.

Mittlerweile ist er einer von 470 Profis und genießt das damit verbundene hohe Prestige in der japanischen Gesellschaft. Man muss sich vorstellen, dass viele Firmen in Asien eigene Go-Lehrer für ihre Angestellten finanzieren, dass ein Privatmann geringer Spielstärke etwa 900 Mark für ein dreistündiges Spiel gegen einen Profi ausgeben muss. „In Korea ist es bei mittleren und großen Unternehmen üblich, starke Spieler als Trainer für leitende Angestellte zu engagieren“, erzählt S.M. Jeon. Er ist ein hoher Diplomat, arbeitet am koreanischen Konsulat in Berlin und ist einer der stärksten Go-Spieler in Deutschland. „Bei uns schreiben große Firmen Meisterschaften aus, deren Sieger gut und gerne 300.000 Mark Preisgeld kassieren. Der Ministerpräsident Koreas lädt regelmäßig Go-Profis in seine Residenz ein, andere Politiker und Firmenchefs machen es genauso“, sagt Jeon.

Mehr und mehr setzt sich sowohl in Japan als auch in den USA die Überzeugung durch, beim Go sei nicht nur viel über Asien zu erfahren. Man könne außerdem Strategien lernen, die im Geschäftsleben von Nutzen sind. Der japanische Spitzenmanager Miura Yasayuki, Vizepräsident der Japan Airlines, ist sogar davon überzeugt, dass der wirtschaftliche Erfolg Japans das Resultat derselben elementaren Strategien ist, nach denen auch das Brettspiel funktioniert. In der Tat ist Go, anders als populäre Spiele im Westen, kein Kriegsspiel, sondern ein Businessspiel. Es geht nicht darum, den Gegner zu vernichten. Sondern darum, das etwas größere Stück eines Ganzen zu bekommen, ohne das Gleichgewicht der Kräfte zu zerstören. Dieses Ziel fordert andere Strategien als europäische Spiele, eben solche, die unserem Denken fern, dem asiatischen eigen sind und offensichtlich auch im Wirtschaftsprozess mit Erfolg angewendet werden können.

Das gilt etwa für das Konzept von Effizienz. Im Go lernt der Spieler, mit den vorhandenen Steinen möglichst viele Gebiete zu besetzen, also jeden Stein so effizient wie möglich zu verwenden. In Europa und vor allem in den USA aber haftet dem Begriff ein hautgout von Ausbeutung an: er riecht nach Stellenabbau. Beim Go bedeutet Wettbewerb nicht, alles zu bekommen, dem Gegner nichts zu lassen, sondern einen etwas größeren Teil des Marktes zu erobern. Wer allzu gierig ist, kann leicht alles verlieren.

Lehrreich ist auch der Umgang mit Niederlagen: hat ein Spieler in einer Ecke des Brettes Verluste erlitten, kann er sie in einer anderen problemlos wettmachen. Oft lässt sich aus einem lokalen Verlust an anderer Stelle Nutzen ziehen. Gerade dadurch kann man strategisch lernen, sich rechtzeitig aus einer Misere zurückzuziehen, also: gutes Geld nicht schlechtem hinterherzuwerfen. Andere Aspekte des Spiels verweisen eher auf allgemeine asiatische Tugenden. Ein guter Go-Spieler muss vor allem eines sein: geduldig und ausdauernd. Ein Spiel hat durchschnittlich 250 Züge, schnelle Blitz- oder Überraschungssiege sind unmöglich. Während in unserer Hemisphäre Schnelligkeit und Angriffslust positive Qualitäten sind, gelten der asiatischen Welt Geduld und Beständigkeit als Tugenden. Hinzu kommt, dass man im Westen den Einfluss des Irrationalen in vielen Lebensbereichen so weit wie möglich zurückdrängt. „Wir Asiaten sind hingegen überzeugt, dass unser Leben von Einflüssen bestimmt wird, die wir nicht rational erklären können, und genauso ist es beim Go: unendlich viele Faktoren bestimmen einen Spielablauf“, sagt Jeon. Deshalb nützt das fleißigste Training nichts, wenn man nicht bereit ist, seinen Geist zu öffnen.

„Beim Go gibt es keine Standardsituationen, deren Lösungen trainiert werden könnten. Ein guter Go-Spieler folgt keinen vorgeschriebenen strategischen Mustern, sondern handelt vor allem aus Erfahrung und im Vertrauen auf die Intuition des Augenblicks.

Die Begriffe Intuition und Irrationalität weisen in jene Bereiche, in denen Go seit alters her verwurzelt ist – in die Spiritualität. In der Geschichte des Spieles ist seine Herkunft aus dem Spirituellen und die Verknüpfung mit althergebrachten Tugenden der wichtigste Traditionsstrang. Doch gerade dieser Aspekt verliert derzeit massiv an Bedeutung. Als Spiel der klassischen Tugenden besitzt Go nur noch wenig Attraktivität für den Nachwuchs, es droht besonders in Japan ein Spiel für alte Männer zu werden. Der japanische Go-Verband Nihon Ki-in kämpft energisch gegen den Traditionsschwund an.

„Go ist eine asiatische Kulturtechnik, früher gehörte es wie Musik, Kalligrafie und Zeichnen zur Ausbildung von Heranwachsenden, sagt Toshio Kawamoto von der Überseeabteilung des japanischen Go-Verbandes. „Es ist nicht gut, dass Go an Bedeutung eingebüßt hat. Das göttliche Spiel trainiert Tugenden wie Geduld, Fairness, Vorstellungsvermögen und Scharfsinn. Der Nihon Ki-in bemüht sich daher nach Kräften um die Verbreitung von Go nicht nur in Japan, sondern auch im westlichen Ausland. So wurde vor acht Jahren ein europäisches Go-Zentrum in Amsterdam eingerichtet, außerdem entsendet Nihon Ki-in jährlich Profispieler in verschiedene Länder Europas.

George Bush hatte übrigens während seiner Amtszeit keine Gelegenheit mehr, Go zu spielen. Bevor er das Angebot Miuras, ihm exklusive Lehrstunden zu erteilen, wahrnehmen konnte, wurde ein anderer Mann zum Präsidenten gewählt. Vielleicht wäre sein Auftritt in Japan sonst erfolgreicher verlaufen, als wir ihn in Erinnerung haben: Beim Festbankett mit dem japanischen Ministerpräsidenten Miyazawa brach Bush zusammen und sackte kopfüber auf den Schoß seines Tischnachbarn.

© 2000 Christiane Krautscheid /Albiez (Erstabdruck: Berliner Zeitung, 01.04.2000; auch abgedruckt in Jörg Digulla / Alfred Ebert / Andreas Fecke / Horst Timm: Das Go-Spiel. Eine Einführung in das asiatische Brettspiel. Hebsacker Verlag, Hamburg 2005, S. 108-110.

Der Wanderer

„Und jeder Schritt des Wandrers ist bedenklich“

Eine Wanderung durch die Motivgeschichte

O wandern, wandern meine Lust!
Herr Meister und Frau Meisterin
laßt mich in Frieden weiterziehn und wandern!
(Wilhelm Müller)

Von wegen Wanderlust – einen schönen Schwindel hat der Dichter der Nachwelt da aufgetischt. Jener fröhlich wandernde Müller ist eine freie Erfindung der Kunst, der Literatur vor allem. Mit den historischen Handwerksburschen auf der Walz hat der Mythos, der den Wanderer und die Kulturpraxis des Wanderns umgibt, nichts gemeinsam, im Gegenteil: bis weit in das 19. Jahrhundert hinein fehlte dem „Unterwegs-Sein“ jeder Hauch von Romantik. Viele Berufsgruppen waren aus ökonomischem Zwang auf ständige Fußmärsche von Ort zu Ort angewiesen. Tagelöhner und Kleinhändler, Spielleute und fahrende Künstler mußten sich Kundschaft oder Arbeitgeber erwandern. Gerade die Handwerksburschen waren keineswegs aus Spaß an der Freude auf der Walz, wie manches romantische Volkslied glauben machen will. Sie folgten einfach den zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert geltenden Zunftregeln, die eine mehrjährige Lehrzeit außerhalb des Heimatbezirkes vorschrieben. Ihnen ging es nicht um das Unterwegssein, sondern um das Ankommen. An einem Ort, der Arbeit und Einkommen sicherte.

Der singend wandernde Müller ist das markanteste Beispiel jener romantischen Verklärung der Wanderschaft, die nachhaltige Spuren in unserem Bewußtsein hinterlassen hat. Beim Stichwort „Wanderer“ haben wir unwillkürlich Schuberts Lieder im Ohr, Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ vor Augen, Eichendorffs „Taugenichts“ im Sinn. Instinktiv denken wir an einen jungen Mann – Damen gehen allenfalls spazieren. Er trägt rustikale Bekleidung, mit Wanderschuhen und leichtem Gepäck. Vielleicht einen Stock in der Hand. Und natürlich bewegt er sich nicht zwischen Fabrikhallen und Häuserschluchten, flaniert nicht durch die Straßen einer Großstadt, sondern durchwandert die Wälder und Auen einer unberührten Naturlandschaft.

Der spezifisch deutsche Topos des romantischen Wanderers war so bildmächtig, daß er eine vielfältige, bis in die Antike zurückreichende Tradierung des Mythos in der europäischen Kulturgeschichte überlagern und unser Bild vom Wanderer bis heute konturieren konnte. In der emblematischen Überlieferung aber stand das Bild je nach Epoche, nach Zeitgeschmack und Befindlichkeit für Sehnsucht, Freiheit, Suche, aber auch Ruhe- und Heimatlosigkeit. Vor allem wurde Wanderschaft immer wieder als Sinnbild des Lebens gedeutet, der Mensch als homo viator, als Wanderer auf dem Weg ins Jenseits: das Auf und Ab des Lebens gleicht den Höhen und Tiefen, den Freuden und Nöten einer Wanderung. Sie hält die prachtvolle Schönheit der Natur, Gastfreundschaft fremder Menschen und Augenblicke der Besinnung, manchmal aber auch Gefahr und Bedrängnis bereit. Wiederkehrende Stationen auf dem Weg des Wanderers sind Ausfahrt, Wegsuche und Einkehr. Seiner Umwelt gegenüber findet er sich in immer neuen Situationen, durch gesuchte oder zufällige Begegnungen, Ereignisse, Begleiter, durch die fortschreitende Entfernung von der Heimat oder Annäherung an das Ziel. Ihn erwartet das Unbekannte, das er als weltoffenes Wesen bewußt sucht. „Der Mensch hat keine so einförmige und enge Sphäre“, meinte Herder und zielte damit einerseits auf die Befähigung, andererseits auf das Bedürfnis des Menschen, Erfahrungsbereiche außerhalb des unmittelbaren Lebenszentrums zu erobern. Um das Fremde zu erkunden und in der Auseinandersetzung mit dem Fremden sich selbst kennenzulernen.

Immer sind es Menschen mit einer bestimmten Disposition, die sich auf Wander-schaft begeben. Sie alle sind ruhelose Sucher, aus ganz unterschiedlichen Gründen bereit, die Heimat zu verlassen. Motivgeschichtlich bilden sich zwei große Gruppen. Jene Wanderer, die freiwillig, aus Weltneugier und Abenteuerlust frohen Mutes unbeschwert hinausziehen. Ihnen ist das Unterwegssein eine innere Bereicherung, die Bewegung in der Fremde ein Genuß. Und die anderen, die vertrieben wurden, fliehen müssen oder aus innerer Qual, aus verzehrender Sehnsucht nach der Ferne weniger hinaus wollen als vielmehr nicht bleiben können.

* * *

Mit Odysseus begegnen wir dem ersten Wanderer der europäischen Kulturgeschichte. Seine Irrfahrt und die glückliche Wiederkehr hat zahllose Variationen in Epos, Ballade und Roman erfahren. Als Urbilder berichten die Bibel von Kain, der mit Wanderschaft gestraft ist, die jüdische Tradition von Ahasver. Schon diese ersten Wanderer sind unfreiwillig unterwegs, von einer göttlichen Instanz zur Wanderung verurteilt, auf der Suche nach einem Ort, der Erlösung gewährt – der Sonderweg des Pilgers deutet sich an.

Wanderschaft als Weg zur Vollendung – zunächst einer Kunst, später zum vollendeten Menschsein –, diese Deutung erwies sich als besonders fruchtbar für die Literatur. Das mittelalterliche Epos etabliert wandernde Helden, die ihren „hohen muot“ in Kämpfen und Proben unter Beweis stellen müssen. Parzival zieht als „tumber tor“ in die Welt hinaus und wächst durch die Begegnung mit Leiden, durch Irrtümer und Zweifel weit über die erstrebte höfisch-ritterliche Meisterschaft hinaus. Im Jahrhundert des Humanismus, mit der Blüte der Handwerkszunft, avanciert der schon erwähnte wandernde Geselle zur literarischen Figur. Er zieht aus, um Erfahrungen zu sammeln, sein Können bei fremden Meistern zu perfektionieren, sein Wissen an berühmten Schulen zu erweitern. Zur gleichen Zeit kommt der Schelmenroman in Mode. Als Protagonist betritt ein jugendlicher Schalk vom Schlage Till Eulenspiegels die literarische Bühne, der von einem Ort zum andern wandern muß, um den Folgen seiner Übeltaten zu entgehen. Noch in der Barockdichtung spielt die Figur dieses unfreiwilligen Vagabunden eine wichtige Rolle. Die Tradition des Pikaro-Romans lebt weiter, und mit ihr der skrupellose Schelm aus dem Volke, der sich gerissen durch die Welt schlägt. Allerdings bleibt die Wanderschaft auch weiterhin Chiffre für Unbeständigkeit und Verwirrung: wohin sich Grimmelshausens Simplicissimus auf seiner Wanderschaft während des Dreißigjährigen Krieges auch wendet, überall trifft er auf Tod, Laster und Verbrechen.

Die entscheidende Wende kommt im 18. Jahrhundert. Das entstehende und aufstrebende Bürgertum entdeckt die Wanderschaft als freiwillige Unternehmung und als lehrreiche Freizeitbeschäftigung. Wandern erhält eine neue und bis heute tragfähige Bedeutung: das Individuum sucht aus eigenem Antrieb außerhalb seines heimatlichen Lebensraumes nach Bildungskräften, nicht um einer Kunst oder des Broterwerbes willen, sondern um sich selbst zu erproben und zu vervollkommnen. Sinne und Erfahrung werden zur Quelle der Erkenntnis; die Begegnung mit der Natur, mit fremden Gegenden und Menschen leistet objektiven Zugewinn für das Weltverständnis. Es ist die große Zeit des Bildungsromans. Und wer sich bilden will, muß die vertraute Heimat verlassen. Als erster läßt Karl Philipp Moritz seinen Anton Reiser, dessen Name Programm ist, unstet von einem Ort zum anderen ziehen. Ein ambulantes Schulzimmer hat er bei sich, exakte Wanderkarten, ein tragbares Tintenfaß und das Oktavheft, in dem das Geschaute schriftlich fixiert, geordnet und bewahrt wird. Goethes Wilhelm Meister folgt ihm auf dem Fuß: die Wanderung ist am Ende des Jahrhunderts als das pädagogische Instrument zur bürgerlichen Charakterbildung etabliert.

* * *

Die Wanderjahre sind nun angetreten,
Und jeder Schritt des Wandrers ist bedenklich.
(Johann Wolfgang von Goethe)

Die eigentümliche Doppelnatur des Wanderns – Erkenntnisgewinn und physische Gefährdung – war dem Dichter Goethe aus eigener Erfahrung vertraut. Ein ganzes Leben lang hat er ausgiebige Wanderungen unternommen, darunter alleine drei Gotthard-Besteigungen. Sein dichterisches Werk erfaßt alle typologischen Spielarten des Wanderns, vom ziellosen Schweifen über Flucht bis hin zur Auswanderung ganzer Gesellschaften. Seit den Jugendjahren bekennt und literarisiert Goethe immer wieder die innere Zerrissenheit zwischen dem Bedürfnis nach bürgerlicher Häuslichkeit und dem Fluchtreflex in die Ferne. Er selbst flüchtet sich mehrfach vor Bindungen in ausgedehnte Wanderschaften, vor einer drohenden Ehe in die Schweiz, später vor den beengenden Weimarer Verpflichtungen nach Italien. Und dennoch läßt er seinen Werther bekennen: „So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande, und findet in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten Welt vergebens sucht.“

In Weimar, in der bewußten Beschränkung auf die bürgerliche Existenz, gewinnt das Motiv neue Konturen. Der Geheimrat wandert immer noch gerne und weit, und gemeinsam mit Herzog August werden Fußmärsche von beeindruckender Dauer und beachtlichem Schwierigkeitsgrad unternommen. Auslösendes Moment ist die Suche nach Konfrontation mit der Welt. Die empfangenen Eindrücke bereichern und bestätigen das Weltbild der Wanderer im bürgerlichen Zeitalter. Nun zieht Wilhelm Meister in seinen Lehrjahren guten Mutes hinaus, um die Kunst des Lebens zu erlernen; jedes Irren führt ihn auf geheimnisvolle Weise näher ans Ziel. Der späte Goethe, der Europa im Kriegstaumel erlebt, verwendet auffallend häufig die Motivvariante der unfreiwilligen Wanderung. Wilhelm Meisters Wanderjahre zeigen, ebenso wie die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, eine ganze Gesellschaft in Bewegung, mobilisiert, entwurzelt. Seine literarischen Wanderer – und mit ihnen der Dichter selbst – vollziehen nun eine geistige Flucht aus der politisch, gesellschaftlich oder persönlich erschütterten Welt in die Sphäre der Kunst, der Poesie. Sie gewährt Geborgenheit, Kontinuität, Kultur, die Rettung jener klassischen bürgerlichen Ideale, die im zersplitterten und von Kriegen zerstörten Europa ihre Verbindlichkeit zu verlieren drohen.

* * *

Welche Welten entwickeln sich im Gemüte, wenn die freie Natur umher
mit kühner Sprache in uns hineinredet, wenn jeder ihrer Töne
unser Herz trifft und alle Empfindungen zugleich anrührt!
(Ludwig Tieck)

Die Wanderungen der jungen Romantiker nehmen eine andere Richtung. „Nach innen führt der geheimnisvolle Weg“, heißt die Parole bei Novalis. Nicht objektive Welterfahrung, sondern subjektives Sich-Finden in der Natur, die zum Spiegel des eigenen Innern wird. Der Wanderer ist jetzt die Personifizierung romantischer Sehnsucht nach dem Unendlichen. Und zur unbestimmten Sehnsucht paßt das Wandern ins Blaue besser als eine zielgerichtete Fahrt. Deshalb unternimmt Eichendorffs Taugenichts eben keine Bildungsreise nach Italien, und die ausgedehnten Wanderungen der Freunde Tieck und Wackenroder am Rhein haben kein festes Ziel wie noch Seumes berühmter Spaziergang nach Syrakus. Der romantische Wanderer ist immer auf der Suche: nach einem unbekannten Glück, nach einer entfernten Geliebten, einem Seelenfreund. Ist er fündig geworden, sehnt er sich danach, erneut auszuziehen. „Sehnsüchtig sah ich jedem Wandersmann nach, der auf der Landstraße vorüberzog, wie wohl ist Dir, sagte ich, daß Du Dein ungewisses Glück noch suchst! Ich hab‘ es gefunden“, heißt es in Franz Sternbalds Wanderungen von Ludwig Tieck. Die Sehnsucht nach dem Fremden rührt aus einer Spannung im Innern des Menschen, sie ist äußere Signatur einer Suche nach dem Selbst, dem Sinn der Existenz. Gleichzeitig wird als eigentliches Ziel der Wanderung der Tod geschaut: Bei Novalis antwortet Heinrich von Ofterdingen auf die Frage, wohin die Wanderschaft führe: „Immer nach Hause“, und der wandernde Sänger in Müllers Winterreise klagt: „Eine Straße muß ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ So mischen sich auch pessimistische Töne in das romantische Bild. Wem es kalt ums Herz ist, dem erscheint die Landschaft trüb und trostlos, die Menschen feindlich. „Und was sie reden, tauber Schall, ich bin ein Fremdling überall“, heißt es in einem Lied des Dichters Schmidt von Lübeck als Variation der berühmten Winterreise-Verse „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“.

* * *

Entflohn sind wir der Stadt Gedränge
Wie anders leuchtet hier der Tag!
Wie klingt in unsre Lustgesänge
Lerchengesang und Wachtelschlag!
(Eduard Mörike)

Je trister das wahre Leben, desto unbekümmerter wandern die literarischen Helden geradewegs aus ihm heraus. Sie verlassen die Stadt, das heimatliche Dorf und verzichten auf die Insignien der bürgerlichen Existenz. Wanderstab und Laute statt Haus und Hof. „Das Leben der meisten ist eine immerwährende Geschäftreise vom Buttermarkt zum Käsemarkt; das Leben der Poetischen dagegen ein freies, unendliches Reisen nach dem Himmelreich“, verkündet der Dichter Faber in Eichendorffs Ahnung und Gegen-wart. Wanderschaft wird zum bewußten Affront gegen die häusliche Welt der Philister. „Die Trägen, die zu Hause liegen, erquicket nicht das Morgenrot, sie wissen nur vom Kinderwiegen, von Sorgen, Last und Not um Brot“, spottet Eichendorff im Gedicht Der frohe Wandersmann. Der anti-bürgerliche Tonfall schwindet allerdings mit der gescheiterten Revolution von 1848: auch literarisch zieht sich die Nation auf eine biedermeierliche Naturschwärmerei und, wie Thomas Mann bemerkte, „machtgeschützte Innerlichkeit“ zurück. Hier gewinnt der Mythos vom frohen Wandersmann eine ähnliche soziale Funktion wie der deutsche Wald und der Vater Rhein. Man unternimmt Vaterländische Wanderungen, erkundet und entdeckt die Schönheit der deutschen Landschaften. Eine Fülle von Sammlungen verbreitet das entsprechende Liedgut, das Liebe zur Heimat statt Lust auf Revolution wecken soll. Das Volkslied steht hoch im Kurs. Es lebt von der standardisierten Verwendung seiner Motive: fast immer bewegt sich ein wandernder Jüngling in heiter-beschaulicher Natur. Da klappern die Mühlen und rauschen die Wälder, dazu zwitschern bevorzugt Lerchen und Nachtigallen. Kostümzwang herrscht für den Wanderer: als Müllersbursche, Jäger, Vagant oder Spielmann zieht er durch die Lande, immer ein munteres Lied auf den Lippen.

Doch je näher die Jahrtausendwende rückt, umso brüchiger wird das romantisierte Wanderer-Bild. In einer industrialisierten Welt, in den wachsenden Großstädten mit ihren Fabriken, angesichts hungernder Arbeiter und arbeitsloser Handwerker wirkt der fidele Wandersmann fahl und unglaubwürdig. Er überlebt in der populären Gebrauchskunst bis in das Liedgut der Jugendbewegung hinein und nimmt an der Trivialisierung des Brauchtums vom „Wunderhorn“ zum „Wandervogel“ teil. Nicht viel später beginnt der Wanderer zu marschieren.

* * *

Wir ziehen mit den dunklen Flüssen
hinauf, hinab den rauhen Weg.
Nun heißt die Heimat: Wandern müssen.
Die Schatten fallen lang und schräg.
(Rose Ausländer)

Im Roman und in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts hingegen avanciert die Wanderschaft unter umgekehrten Vorzeichen zur zentralen Chiffre für die Suche nach Richtung in einer fremdgewordenen Welt. Der Einzelne irrt einsam, zurückgeworfen auf sich selbst, durch eine diffuse Wirklichkeit: „Seltsam, im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamkeit. Kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein“, formuliert Hermann Hesse die existentielle Erfahrung der Orientierungslosigkeit.

Zwei Weltkriege versetzen ganze Völker in Bewegung, Flucht und Vertreibung zwingen zum Verlassen der vertrauten Umgebung. Heimat wird zum Unwort, weil sie keine Beheimatung mehr birgt. Das Bild des Wanderers wird überblendet vom Bild des Auswanderers. Der alle Hoffnung auf Heimat, freundliche Aufnahme und glückliche Rückkehr fahren lassen muß. Brechts Flüchtlinge sind von Goethes Auswanderern vor allem durch die Aussichtslosigkeit, den Verlust jeder Hoffnung auf Wiederherstellung idyllischer Geborgenheit getrennt. Mit dieser Eintragung im kulturellen Gedächtnis, mit dem Wissen um die unzähligen Flüchtlinge unserer Tage, verdunkelt sich das romantische Wanderer-Bild. Was der Goethe-Zeit die gesellige Kultur, den Romantikern die Natur zu leisten vermochte – die Gegenwart hält keinen geistigen Fluchtpunkt für den Wanderer bereit.

© 1997 Christiane Krautscheid (heute Christiane Albiez; Erstabdruck: „…ich bin ein Fremdling überall.“ Publikation zum Wanderer-Zyklus des Berliner Philharmonischen Orchesters der Saison 1997 / 1998 herausgegeben von Sabine Borris, 11/1997, S. 9-20)