Janáček „Jenufa“

Wahnsinn und Weiblichkeit

Janáček Oper „Jenufa“ als sexualpathologische Fallstudie

Verbrechen, Wahnsinn, Sex und Perversion. „Jenufa“, eine Oper von Leoš Janáček, nimmt es locker mit jedem „Tatort“ auf. Besser gesagt: nur die spannendsten, psychologisch subtilsten, dramatischsten und verstörendsten Tatort-Folgen reichen halbwegs an Janáček Horrorstory heran. Nicht nur die schockierenden Ereignisse selbst, auch und vor allem die musikalische Intensität, mit der sie geschildert werden, jagt dem Zuhörer Schauer über den Rücken. Man spürt fast körperlich die Zwanghaftigkeit, mit der die Personen der Oper in einen Strudel hineingerissen werden, der sie unaufhaltsam abwärts zieht. Die Handlung der Oper nach einem Schauspiel von Gabriela Preissova spielt in einer einsamen Dorfsiedlung in den mährischen Wäldern. Der junge Stewa Burya hat mit dem Hof und der Wassermühle eine Quelle von Reichtum und gesellschaftlichen Stellung im Dorf ererbt. Bei ihm arbeitet Jenufa. Sie ist bei einer Ziehmutter, der Küsterin des Dorfes, aufgewachsen. Die alte Frau ist furchterregend und herrschsüchtig, als strenge Hüterin von Moral und Ordnung hat sie einen hohen Rang innerhalb der Dorfhierarchie inne. Jenufa liebt Stewa und erwartet ein Kind von ihm. All ihre Hoffnungen richten sich auf eine baldige Heirat, denn sollte er sie nicht zur Frau nehmen, so verlangten die moralischen Gesetze der Gemeinschaft von ihr, sich selbst zu töten, um der Schande zu entgehen. Die Küsterin ahnt nichts von Jenufas Schwangerschaft und gebietet dem ungezügelten Stewa, Jenufa erst dann zu heiraten, wenn er ein Jahr lang nüchtern geblieben ist. Damit spricht sie unwissentlich das Todesurteil über Jenufa. Stewa hat einen Stiefbruder, Laca, der große Zuneigung für Jenufa empfindet. Sie aber weist ihn ungeduldig und grob zurück. In einem solchen Augenblick schlägt Lacas unbeherrschte Leidenschaft in Wut um und er zerschneidet mit einem Messer das schöne Gesicht Jenufas: wenn ihre Schönheit nicht für ihn sein kann, soll auch Stewa sie nicht besitzen. Soweit die Handlung des ersten Aktes.

Es öffnet sich der Vorhang für den zweiten Akt. Auf der Szene liegt hoher Schnee. Er trennt das Haus der Küsterin, in dem sie Jenufa verbirgt, vom Dorf. Jenufa hat ihr Kind heimlich geboren. Ihr Leben ist hart; die Küsterin bestraft Jenufas zärtliche Liebe zu ihrem Söhnchen mit Strenge und Hass auf das Kind. Alle weiteren Ereignisse drängen sich nun in einer Nacht und einem Tag zusammen. Für den Abend hat die Küsterin Stewa zu sich bestellt. Doch ihrer Aufforderung, er solle sich zu seinem Kind und zu Jenufa bekennen, folgt Stewa nicht, im Gegenteil: er ist von Jenufas Narben abgestoßen. In Stewas Rückzug wittert Laca seine Chance auf die geliebte Jenufa. Die Küsterin erkennt in Lacas unermüdlichem Werben eine Möglichkeit, Jenufas Ehre zu retten. Als sie Laca jedoch von dem Kind erzählt, schrickt der zurück. „Und nun soll ich’s wohl nehmen, das Kind von Stewa?“, fragt er. In diesem Augenblick greift die Küsterin zu einer verzweifelten Notlüge: das Kind sei tot, sagt sie, Jenufa also frei. Damit manövriert sie sich in eine ausweglose Lage: nun muss sie das Kind töten, und für das Leben des Kindes wird sie Jenufas Ehre kaufen. Noch in derselben Nacht ertränkt sie den Säugling im eisigen Dorfbach. Als Jenufa am Morgen erwacht und ihr Kind sucht, lügt die Küsterin ein zweites Mal: das Kind sei plötzlich gestorben, erklärt sie der Verzweifelten. Laca erscheint, Jenufa willigt zermürbt und verzweifelt ein, ihn zu heiraten. Dass Jenufas Ehre damit wieder gerettet ist, bewahrt die Küsterin nicht davor, an ihrer Schuld wahnsinnig zu werden.

Die Opernforschung hat immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Janáček den zweiten und dritten Akt während jener Monate schrieb, in denen sein eigenes Kind Olga mit dem Tod kämpfte. Er hat das Werk dem Andenken der Tochter gewidmet und später über die Oper gesagt: „Die Jenufa möchte ich nur mit dem Trauerflor der langen Krankheit, der Schmerzen und des Jammers meiner Tochter Olga und des Bübchens Vladimir umwinden.“ Man braucht jedoch Janáček biographische Situation nicht heranzuziehen, um die emotionale Wucht der Jenufa zu erklären. Wohl aber kann man davon ausgehen, dass die Tiefe der erlittenen seelischen Erschütterungen den Hintergrund für die Intensität und Authentizität der Darstellung seiner Figuren bildet. Solche Darstellungen sind ihm immer dann geglückt, wenn er die Zerrissenheit einer Figur zwischen den äußeren Anforderungen und der inneren Disposition schildert. In „Jenufa“ und vor allem in deren zweiten Akt erhält sie eine unerhörte künstlerische und emotionale Dramatik. Mit dem zweiten Akt gelingt Janacek ein in der Operngeschichte wohl beispielloses Psychogramm, die einzigartige Studie eines psychopathologischen Falles mit den Mitteln der Musik.

Wie Ibsen und Strindberg etabliert Janacek die private, häusliche Welt als Ort der modernen Tragödie. Während der erste Akt in der äußeren Welt der Männer spielt und von Aggression und Tat geprägt ist, beschränkt sich im zweiten Akt alles auf das enge, von der Außenwelt abgeschnittene Haus der Küsterin. Dieses Ausblenden der äußeren Welt lässt die Ausbrüche der Psyche umso gefährlicher wirken, vergleichbar einer Explosion im geschlossenen Raum. Aber nicht Jenufa, die Titelfigur, steht im Zentrum des emotionalen Chaos. Sie ist, obwohl der nachträgliche Titel vom Übersetzer Max Brod das suggeriert, keineswegs Trägerin des tragischen Konfliktes oder gar die Hauptperson der Oper. Man kommt der Sache auf die Spur, wenn man die musikalischen Höhepunkte der Oper betrachtet: Es sind die drei Monologe des zweiten Aktes. An diesen Stellen stockt die Handlung; die Musik, komplexer und konzentrierter als in der gesamten restlichen Oper, steht ganz und gar im Dienst der Darstellung psychischer Prozesse. Jenufa singt einen dieser Monologe, es ist die ausgedehnte Szene, in der sie sich von bösen Traumhalluzinationen loszureißen müht. Die beiden anderen, die musikalisch gewichtigsten, gehören zur Partie der Küsterin: die Szene unmittelbar vor dem Kindsmord gehört dazu und das Ende des Aktes, „Wahnsinnsmonolog“ wird diese Szene in Opernführern gern genannt. Diese beiden zentralen Passagen lassen keinen Zweifel daran, wer die Hauptrolle spielt: Die Küsterin und nicht Jenufa ist das musikalische und dramatische „Schwergewicht“ unter den Figuren. Um sie geht es.

Ihr „Wahnsinnsmonolog“ ist gewiss der Höhepunkt der emotionalen Entfesselung. Von dieser Zuspitzung am Ende des Aktes darf man sich aber nicht täuschen lassen: die geistige Verstörung der Küsterin ist lange vor diesem Moment so weit fortgeschritten, dass man von Wahnsinn oder, medizinisch ausgedrückt, von einer Psychose sprechen muss. Ihr Entschluss, das Kind mit eigenen Händen zu ermorden, reift lange vor dem Gespräch mit Laca heran. Zu Beginn des zweiten Aktes schimpft sie über Jenufas Mutterliebe, für sie ist das Kind nur die Inkarnation ihrer Schande, sie betet sogar zu Gott, er möge das Kind zu sich nehmen, um sich dann einzureden, sie selbst müsse das Kind heim zu Gott tragen. Das ist nicht weniger als der blasphemische Wunsch, den Schöpfer zum Komplizen für den Mord zu machen. Und es ist nicht alles. Nach dem Streit mit Stewa erwägt die Küsterin ausdrücklich, das Kind zu erwürgen und es dem untreuen Vater vor die Füße zu werfen. Die Musik reagiert auf diese Vorstellungen mit unerhörter Heftigkeit. Die Idee ist längst geboren, das Verbrechen längst auch musikalisch präsent. Mit der Lüge konstruiert die Küsterin nur noch die scheinbar objektive Notwendigkeit, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen.

Nun könnte man argumentieren, ihr Wahnsinn sei die angemessene Antwort auf das unmenschliche Gesetz des Dorfes, das keine „Befleckte“ unter sich duldet. Aber gibt es wirklich keine Wahl? Jenufa hat das Kind geboren, ohne entdeckt zu werden, sie könnte das Dorf verlassen, so, wie es am Ende der Oper auch geschieht. Nein, Jenufas Lage ist weder der Hintergrund noch der Anlass für die Psychose der Küsterin. Vielmehr ist es die Tatsache, dass sie selbst die Gesetze geschaffen hat, mit denen sie nun in unlösbaren Konflikt gerät. Innerhalb der Dorfwelt ist die Küsterin keine Person, sie ist eine moralische Instanz. Janáček übernimmt aus der dramatischen Vorlage von Gabriela Preissova, dass die Küsterin als einzige Figur keinen Namen trägt, sondern nur in ihrer Funktion angesprochen wird. Auf diese Weise entpersonalisiert existiert sie nicht als Individuum, sondern als Verkörperung eines Regelwerkes. Im scharfen Gegensatz dazu stehen ihre unkontrollierten Emotionen, die Janacek schon zu Beginn des Aktes mit unruhig auffahrenden, großen Intervallsprüngen markiert und als deren musikalisches Korrelat er das Intervall des Tritonus einsetzt. Die Spannung zwischen Sollen und Sein zerstört die Küsterin. Sie müsste sich selbst negieren und sich gleichermaßen neu erfinden, sich eine eigene, ihrer starken Emotionalität entsprechende individuelle Identität schaffen, um sich dann bewusst über die Banden des Gesetzes zu erheben. Es gelingt ihr nicht. So treiben die einander verstärkenden und widerstreitenden Kräfte sie unaufhaltsam in den Wahnsinn.

Vielleicht müssen wir sogar noch einen Schritt weiter gehen. Es fällt auf, dass Janacek konsequent alle Informationen über die Familiengeschichte der Buryas aus Preissovas Drama gestrichen hat. Wir erfahren nichts über die Herkunft Jenufas und nichts über die unglückliche Ehe der Küsterin mit Stewas Onkel. Diese Ungewissheit gibt Raum für Spekulationen. Wir ahnen zwar, dass auch die Küsterin einmal das Leben einer Frau gelebt hat, es gibt sogar Anzeichen dafür, dass sie die leibliche Mutter Jenufas ist. Doch diese Episode scheint ausgelöscht, ausgemerzt wie ein Krankheitsherd. Ihr Hass auf die Männer, auf deren Aggression, auf das andere und das Geschlecht an sich, dieser Hass, der sich auch auf Jenufas Söhnchen ausweitet, jener sichtbare Beweis des Sexus, zeugt von einer tiefen sexualpathologischer Störung. Jenufa, ihre Tochter, hat sie als Muster des Weiblichen erzogen, sie soll der verkommenen Welt der Männer als Muster von Reinheit und Moralität gegenüber stehen.

Und dann geschieht das Unfassbare. Zweimal erlebt die heranwachsende Jenufa die überwältigende und zerstörerische Macht des Sexus. Einmal durch Stewas Liebe, einmal durch jene Lacas. Stewa nimmt ihr mit ihrer Einwilligung die Jungfräulichkeit. Doch erst Lacas Übergriff, das Einritzen der Haut ihrer „Apfelwangen“, die beide Männer als Ausdruck jungfräulicher Schönheit werten, reißt Jenufa für alle sichtbar aus der Sphäre des Unberührten heraus. Die Narbe, die das phallische Messer ihr zufügt, ist das äußere Kainsmal ihrer verlorenen Unschuld.

In Jenufa aber lösen diese Ereignisse keineswegs psychotische Zustände oder auch nur Hass aus. Im Gegenteil: Erst durch die beiden sexuellen Akte, die sie mit Stewa erlebt bzw. mit Laca erleidet, nur dank ihrer körperlichen „Versehrtheit“ und der verlorenen Jungfräulichkeit gelingt es ihr, über die geistige und moralische Enge ihrer Umgebung hinauszuwachsen und zu persönlicher Autonomie zu gelangen. Ganz im Gegensatz dazu steht die Entwicklung der Küsterin: in dem Maße, in dem Jenufa ihr Wesen als Frau, als Mutter, als sexuelles Geschöpf annimmt und dadurch gestärkt wird, verliert die Küsterin an moralischer und geistiger Autorität. Das erfolgreichere Konzept vertritt Jenufa: sie befindet sich in Übereinstimmung mit ihrer Natur. Janáček betont diesen Aspekt, in dem er sie mehrfach in Übereinstimmung mit der äußeren, belebten Natur zeigt, etwa in der Fensterszene und in ihrem Gebet. Nur Jenufa besitzt dank ihrer harmonischen Totalität die natürliche Autorität, der Küsterin am Ende des dritten Aktes zu vergeben. Sie vollzieht den entscheidenden Schritt über die vorgegebenen Gesetze hinaus, zu dem die Küsterin nicht fähig war: sie verzeiht der moralisch Gefallenen und verlässt das Dorf. Ob ihre Ziehmutter genesen wird, welche Rolle sie zukünftig in der Dorfgemeinschaft spielen kann, bleibt offen. So erleichtert wir uns mit Jenufa fühlen, so hilflos bleiben wir angesichts der psychischen Zerrüttung der Küsterin zurück.

© 2001 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Programmheft der Berliner Philharmoniker Nr. 22, 22.04.2001)