Schönberg zu Gast
Im letzten philharmonischen Salon haben wir Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennen gelernt und die gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Strömungen, die das Leben von Gustav und Alma Mahler prägten. Mit Alma, der Tochter des bedeutenden Landschaftsmalers Emil Jakob Schindler, trat uns eine junge Frau entgegen, die nicht allein durch ihre Schönheit die interessantesten Männer dieser Zeit in ihren Bann schlug, sondern vor allem durch künstlerische und sprachliche Begabung, Intelligenz, Witz und selbstbewusste Urteilsfähigkeit. Von 1901 an hatte die Kompositionsschülerin Alexander von Zemlinskys ihre eigene künstlerische Produktion zu Gunsten eines Lebens aufgegeben, das ganz im Dienste ihres genialen Gatten stand: Gustav verlangte das so, und Alma gehorchte. Die rund 100 Lieder, der Opernentwurf und die Instrumentalstücke, die sie zu diesem Zeitpunkt bereits geschrieben hatte, verschwanden in der Schublade. Erst ganz am Ende ihrer Ehe, als diese zu zerbrechen drohte und Gustav um ihre Gunst kämpfen musste, erlaubte er ihr die Veröffentlichung ausgewählter Kompositionen.
1911 starb Gustav Mahler. Schon bald holte Alma ihre früheren Arbeiten wieder hervor; 1915 entstanden neue Lieder – zwei nach Texten von Novalis, eines nach einem Gedicht von Franz Werfel –, die sie, gekoppelt mit zwei früheren Liedern, veröffentlichte. Wie all ihre Werke sind auch diese höchst persönliche Äußerungen, ja Kommentare zu aktuellen Lebenssituationen und Dokumente hoher Selbstreflexion; „Tagebuchkunst“ hat man sie ein wenig despektierlich genannt und damit gemeint, dass das Subjektive in Almas Musik die formalen Momente bei Weitem überragt. Man spricht von Talent, von einem Sich-Einfinden in den zeittypischen musikalischen Gestus beispielsweise eines jungen Erich Wolfgang Korngold, von kühnem Pathos, aber nicht von Genie. Alma selbst war sich vollkommen darüber im Klaren, dass ihr Platz am Sockel der großen Standbilder zu finden war, nicht an deren Seite. Nach Zemlinsky, Mahler, Kokoschka und Gropius war es ab 1917 der Dichter Franz Werfel, dessen schöpferische Arbeit sie begleitete. Nicht selbst produktiv zu sein, sondern andere zur Produktion zu stimulieren, Kunst zu ermöglichen auf ganz praktische, etwa finanzielle Weise, Künstler zusammenzuführen und ihren kreativen Austausch anzustoßen: das ist die einzigartige Lebensleistung der Alma Mahler-Gropius-Werfel.
Im Zentrum des heutigen Nachmittags, der Almas „roten Salon“ um 1920 porträtiert, steht einer jener Komponisten, dessen Lebensweg anders verlaufen wäre, wenn er sich nicht mit demjenigen von Alma Mahler gekreuzt hätte: Arnold Schönberg. – Aber langsam, fangen wir vorne an: Wie lernten Alma und Schönberg sich eigentlich kennen? Natürlich, wird man mutmaßen, über Gustav Mahler. Falsch. Gerade umgekehrt war es: Alma kannte Schönberg schon fünf Jahre, als dieser Kontakt zu Gustav aufnahm. 1899 war Alma Schülerin und zudem bald Geliebte Alexander von Zemlinskys geworden, der auch Arnold Schönberg unterrichtete. Von dieser Zeit an begegneten sich beide regelmäßig im Haus des Lehrers. In Almas frühen Urteilen über Schönberg mischen sich Bewunderung, Befremden und antisemitische Vorbehalte. Als sie 1901 einen neuen Kompositionslehrer sucht, zieht sie auch Schönberg in Erwägung: „Ich habe das Gefühl, er [Gound] nimmt mich nicht… Dann gehe ich zu Schönberg… lieber wäre mir aber Gound. Schönberg ist mir zu jüdisch“, notiert sie in ihr Tagebuch. Ihre abstoßenden Ressentiments hindern sie allerdings nicht, sich intensiv mit Schönbergs Musik auseinander zu setzen und seine Konzerte zu besuchen.
Zu dieser Zeit lehnt Schönberg die Musik Gustav Mahlers noch kategorisch ab. Auf die Frage Almas 1902, ob er sich die Wiener Erstaufführung der Vierten Symphonie anhören werde, antwortet Schönberg: „Wie kann Mahler bei der IV. etwas können, wo er doch schon bei der I. nichts gekonnt hat.“ Doch 1904 kommt es zu einer unerwarteten Wende: Schönberg schreibt dem Wiener Hofoperndirektor jenen berühmten „Bekenntnisbrief“, der seinen Wandel vom Spötter zum Jünger dokumentiert und die Freundschaft mit dem älteren Kollegen einleitet. Von diesem Zeitpunkt an lädt Alma den jungen Komponisten regelmäßig zum Abendessen und anschließendem gemeinsamen Musizieren mit Zemlinsky und vielen anderen in das Haus in der Wiener Auenbruggergasse ein. Bei diesen Anlässen kommt es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen, die Alma folgendermaßen schildert: „Am Anfang immer ganz friedlich, aber plötzlich – irgendein hochmütiges Wort von Schönbergs Seite, von Mahler eine etwas von oben herab betonte Zurechtweisung – und es krachte auf allen Seiten. Schönberg gefiel sich in Paradoxen ärgster Art … Mahler erwiderte dozierend, doktrinär; Schönberg sprang auf und lief mit kurzem Gruß davon.“
Doch diese Streitigkeiten um künstlerische Fragen scheinen keine nachhaltigen Wunden hinterlassen zu haben. Mahler nutzt in Wien jede Gelegenheit, sich öffentlich für Schönberg und dessen die Zuhörer befremdendes neues Œuvre einzusetzen. Bei etlichen Aufführungen klatscht der prominente Dirigent demonstrativ gegen Buhrufer an und scheut keine Auseinandersetzung; bei der Uraufführung von Schönbergs d-Moll-Streichquartett wäre es sogar beinahe zu einer Schlägerei gekommen. Immer wieder unterstützt Mahler Schönberg, der sich ständig in Geldnot befindet, mit großzügigen Summen – eine praktische Hilfe, die Alma nach dem Tod ihres Mannes fortsetzt. Mehrmals vergibt sie die jährliche Ausschüttung aus der Mahler-Stiftung für bedürftige Musiker an Schönberg – selbst noch 1931, obwohl Jurymitglied Richard Strauss dazu schreibt: „Ich stimme Ihnen bei, die Zinsen der Stiftung Arnold Schönberg zu geben. Wenn ich auch glaube, dass es besser wäre, wenn er Schneeschaufeln würde, als Notenpapier zu bekritzeln – so geben Sie ihm immerhin die Stiftung … da man ja nie weiß, wie die Nachwelt darüber denkt.“
Aber zurück in unseren Salon. Einige Zeit nach Gustav Mahlers Tod nimmt die Witwe und Universalerbin ihre Salontätigkeit wieder auf, zunächst in ihrer Wiener Wohnung, später in jenem Haus auf dem Semmering, das sie für sich und Oskar Kokoschka gebaut, selten mit Walter Gropius bewohnt hat und in dem sie schließlich ab 1917 mit Franz Werfel lebt. Arthur Schnitzler, Gerhard Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Ödon von Horvath und Carl Zuckmayer gehören zu den Freunden des Paares. Ständig sind berühmte Musiker und Komponisten zu Gast im Haus Mahler-Werfel – neben Schönberg auch Ottorino Respighi und Hans Pfitzner, Ernst Krenek und Alban Berg; im Herbst 1920 wohnt Maurice Ravel mehrere Wochen bei ihnen. Darius Milhaud, der Alma in seiner Biografie ein bewunderndes Denkmal setzt, gehört ebenso zu den Übernachtungsgästen wie Francis Poulenc.
Während des Besuchs von Milhaud organisiert Alma ein abendliches Ereignis, das den Rang der Konzerte in ihrem „roten Salon“ ebenso unterstreicht wie ihren Einsatz für Schönbergs Musik: eine Aufführung des Pierrot lunaire. Sie selbst berichtet darüber in ihrem Tagebuch: „Vor allem wollte ich dieses urfremde Werk den Wiener Freunden und Musikern nahe bringen. Zugleich diente das Ganze einem Vergleich: Das Werk wurde bei mir zweimal nacheinander aufgeführt. Zuerst vom Kapellmeister Stein, der ein Schüler und Prophet Schönbergs war. Dann von Darius Milhaud. Gesprochen wurde es zuerst von Erika Wagner, einstudiert von Schönberg selbst – dann gesungen von Maria Freund, einstudiert von Milhaud. Schönberg erkannte nun sein Werk kaum wieder – aber die Mehrzahl der Anwesenden war für Milhauds Auffassung. Origineller war es zweifellos in Schönbergs rhythmisierter Fassung des betonten Sprechens, denn im Gesang merkte man eher die paar Anlehnungen an Debussy.“ Milhaud erinnert sich an den Abend, an dem rund 80 Gäste sich im Salon drängten: „Es war ein aufregendes Ereignis. Schönbergs Auffassung brachte die dramatischen Züge viel brutaler, intensiver, rasender heraus. Meine hingegen unterstrich den sinnlichen Charakter der Musik und ihre Süße, Subtilität und Durchsichtigkeit.“
Schon beim allerersten Hören des Pierrot lunaire kann man sich vorstellen, wie verstörend dieses Werk, seine Verbindung der Texte mit dieser nie zuvor erklungenen Musik zur Zeit seiner ersten Aufführungen gewirkt haben muss. Es ist ein singuläres Stück der so genannten Zweiten Wiener Schule, dessen Einstudierung auch heute noch tiefer geistiger Durchdringung und sorgfältiger konzeptioneller Planung bedarf, außerdem einer Sängerin, die nicht nur die ungemein schwierigen Tonfolgen und -sprünge singen kann, sondern auch eine dezidierte Vorstellung von der inhaltlichen Interpretation der schwierigen Texte Albert Girauds in Schönbergs Deutung hat. Im Wissen um diese ungewöhnlichen Anforderungen geriet der Komponist 1922 in Streit mit Edgard Varèse, der eine Aufführung in New York plante: „In Wien hat man hungernd und frierend an 100 Proben gemacht und ein tadelloses Ensemble unter meiner Mitwirkung herangebildet. Aber ihr setzt einfach ein Datum an und meint, damit sei es getan! Haben Sie eine Ahnung von den Schwierigkeiten; vom Stil; von der Deklamation; von den Tempis; von der Dynamik und all dem?“
Hinter der vordergründig expressionistischen Klanglichkeit verbirgt dieser Liederzyklus eine kompositorische Komplexität und durchdachte Konstruktion, die dem unbefangenen Hörer verborgen bleiben, sich aber dem analysierenden Leser erschließen und ihn zutiefst beeindrucken können. Es gibt kaum eine Kompositionsrichtung der Musikgeschichte – angefangen von der Kontrapunktik der niederländischen Polyphonisten des 15. und 16. Jahrhunderts bis hin zur „Atonalität“ –, von der Schönberg hier keinen Gebrauch macht. Hinzu kommt der subtile Einsatz der Klangfarben jedes einzelnen Instruments: Für alle Stücke probiert er die Klangpalette der neun Instrumente in immer neuen Zusammensetzungen aus. Drei der fünf Ensemblemitglieder spielen Wechselinstrumente, das heißt: der Geiger spielt auch Bratsche, der Flötist auch Piccolo, der Klarinettist auch Bassklarinette; lediglich das Klavier setzt Schönberg in allen Stücken ein, allerdings in völlig unterschiedlichen Tonsätzen von höchst polyphonen Strukturen bis hin zu einfacher Akkordik. Insgesamt 25 Proben, eine heute unvorstellbare Zahl, waren der Uraufführung in Schönbergs Einstudierung und unter seiner Leitung in Berlin 1912 vorausgegangen. Das Ensemble war dabei hinter einem Wandschirm für das Publikum verborgen, so dass allein die Sängerin, die Auftraggeberin und bekannte Diseuse Albertine Zehme, im Pierrot-Kostüm auf der Bühne stand. Diese Premiere wurde zum Triumph für Schönberg, dem in Wien soviel Ablehnung entgegengeschlagen war. Anton von Webern berichtet zwar von anfänglichem Zischen und Pfeifen, aber „am Schluß war nicht die Spur von Widerspruch. Schönberg und die Ausführende mussten oft und oft kommen, vor allem natürlich Schönberg; man schrie im Saale nach ihm immer wieder. Es war ein unbedingter Erfolg.“
1929 heiratet Alma Franz Werfel und zieht mit ihm in eine prächtige Villa auf der Hohen Warte. Auch hier führt sie wieder ein offenes Haus, über das Klaus Mann schreibt: „Frau Alma […] machte den Salon, wo tout Vienne sich traf: Regierung, Kirche, Diplomatie, Literatur, Musik, Theater – alles war da. Die Hausfrau, hochgewachsen, sorgfältig geschmückt, von immer noch schöner Miene und Gestalt, bewegte sich triumphierend vom Päpstlichen Nuntius zu Richard Strauss oder Arnold Schönberg, vom Minister zum Heldentenor, vom stilvollen vertrottelten alten Aristokraten zum vielversprechenden jungen Dichter.“
Doch das großbürgerliche Glück währt nur ein knappes Jahrzehnt. Ende der 1930er-Jahre müssen Alma und ihr jüdischer Mann unter unvorstellbaren Bedingungen zunächst nach London, dann nach Frankreich und in letzter Sekunde gemeinsam mit Golo und Heinrich Mann sowie dessen Frau Nelly über Spanien nach Portugal und von dort per Schiff nach New York fliehen. In der »neuen Heimat« nimmt Alma ihre Salontätigkeit wieder auf: Erst in Los Angeles und später in New York versammelt sie wieder neue, junge Komponisten wie Benjamin Britten (er schenkt ihr seine Michelangelo-Lieder und widmet ihr sein Nocturne für Tenor und kleines Orchester) und Leonard Bernstein um sich sowie die ebenfalls emigrierten Freunde: z.B. Wolfgang Erich Korngold und die Familie Schönberg. Zum 75. Geburtstag Schönbergs steuert Alma mit vielen anderen Musikern und Komponisten einen verehrungsvollen Aufsatz zu einer Festschrift bei. Als Schönberg am 13. August 1951 stirbt, ruft seine Frau sofort Alma Mahler zu sich. Anna Mahler nimmt dem Komponisten die Totenmaske ab, während ihre Mutter sich von dem Freund verabschiedet. Es war eine ihrer vielen Freundschaften zu überragenden Persönlichkeiten der Zeit, die ein Leben lang gehalten hat.
© 2003 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Programmheft der Berliner Philharmoniker Nr. 74, 14.12.2003)