Im kolonialen Dschungelcamp
Wäre die Geschichte nicht hieb- und stichfest verbürgt und in Militärarchiven nachzulesen, man müsste dem Autor einen Hang zur maßlosen Übertreibung vorwerfen. Gut erfunden, lieber Capus, aber allzu absurd! Doch der Schweizer Romancier hält sich weitgehend an historische Fakten und verwebt diese zu einer fesselnden, ziemlich verrückten Erzählung.
„Eine Frage der Zeit“ beginnt im Jahr 1913. Die Gebiete der Kolonialmächte Deutschland und England berühren sich am ostafrikanischen Tanganikasee. Wer die Seehoheit auf diesem Gewässer hat, verfügt über wichtige strategische Vorteile. Aber dazu braucht man vor allem eines: Schiffe.
Auf deutscher Seite erhalten drei brave Papenburger Schiffsbauer den abenteuerlichen Auftrag, das gerade erst fertig gestellte Dampfschiff „Graf Götzen“ in seine Einzelteile zu zerlegen und in 5.000 Kisten verpackt nach Afrika zu verbringen. Fast zeitgleich schlägt in London die Stunde des Oberstleutnant Spicer Simson, eines erfolglosen Hasadeurs und begnadeten Aufschneiders. Die Royal Navy beruft ihn dazu, unter strengster Geheimhaltung zwei Ausflugsschiffe zu Kanonenbooten umzubauen und ins Herz Afrikas zu transportieren. Am Tanganikasee soll er damit die Schiffe der gegnerischen Deutschen versenken. Spicer wittert die Chance auf einen Platz in den Geschichtsbüchern. Es gelingt ihm, seine ungewöhnliche Fracht mit Hilfe von zwei Dampfzugmaschinen, 5.000 afrikanischen Trägern und 500 prachtvollen Ochsen tausende Kilometer von der afrikanischen Küste über die Berge und durch den tropischen Dschungel ans Ziel zu bringen.
Nun liegen sich die verfeindeten Truppen an den Ufern des Sees gegenüber. Die norddeutschen Schiffsbauer haben sich in der Hitze des Dschungels wohlig eingerichtet und Freunde unter den einheimischen Massai gefunden. Doch die afrikanische Idylle endet schlagartig, als in Europa der Krieg ausbricht und die Ingenieure höchst widerwillig ein Teil des deutschen Heeres werden. Die Schiffsbauer setzen alles daran, die Montage der „Graf Götzen“ zu verzögern und so ihren Kriegseinsatz zu sabotieren. Auf der Gegenseite verliert auch Spicer nach ersten Kampferlebnissen die Lust am Krieg. Nach kurzer Zeit teilen die Männer eines, ganz gleich, ob Commander im Auftrag der britischen Krone oder Ingenieur im Dienst des deutschen Kaisers: Die Einsicht in den Irrsinn ihres Tuns.
Diese unglaubliche Geschichte erzählt Capus mit großartigem Sinn für Ironie, Liebe zu seinen sonderlichen Helden und feinem Spott auf die Albernheit des Exerzierens in knietiefem Dschungelschlamm. So ist dieser Roman nicht nur ein herrliches Lesevergnügen, sondern erinnert uns auch daran, dass eine so abstruse Geschichte vor nicht einmal hundert Jahren Wirklichkeit werden konnte.
© 2008 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 50, Frühjahr 2008)
Alex Capus: Eine Frage der Zeit. Knaus Verlag, München 2007.