Musikverlage

Informationstext Deutsches Musikinformationszentrum

„Für die Musikverlage ist der klassische Notendruck schon längst nicht mehr die einzige Einnahmequelle. Erlöse kommen heute auch aus den Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaften, aus Lizenzen, dem Sync-Geschäft und sogar dem Künstlermanagement. Ein Überblick zur Arbeit der Musikverlage.“

Auszug aus dem Einführungstext

„Die Tätigkeit von Musikverlagen ist geprägt von zwei wesentlichen Faktoren. Zum einen ist dies die Beziehung der beiden Wertesysteme Wirtschaft und Kultur, zum anderen der stetige Medienwandel. Der dem Verlagswesen immanente Dualismus zwischen Wirtschaft und Kultur ist gekennzeichnet von dem immerwährenden Versuch, die schöpferisch Tätigen mit den Mitteln zu versehen, die eine angemessene Vergütung der Verwertung ihrer Musikwerke gestatten, und zugleich eine Entfaltung musikalischer Kunst frei von wirtschaftlichen Zwängen zu gewährleisten. Die ständige Verfügbarkeit von Musik hat sich mittlerweile auch auf die verlagliche Ebene durchgeschlagen. Die globalisierte Welt stellt die Musikverlage vor neue Herausforderungen und gibt neue Spielregeln mit Chancen und Risiken gerade im Online-Bereich auf. War es vor einigen Jahren noch das gedruckte Notenblatt, das für die Verlage der ernsten Musik das Hauptmedium ihres Schaffens darstellte, bieten sie heute daneben auch elektronische Ausgaben an. Für die Verlage der Unterhaltungsmusik lassen sich ähnliche Umbrüche feststellen. War bei ihnen das Verlagsrecht an der Komposition hauptsächlich durch die Medien Radio, Fernsehen und Tonträger wiedergegeben, so stellt sich heute der Streaming-Bereich als das am stärksten wachsende Segment dar. „

© 2021 Christiane Albiez und Christian Baierle (Erstveröffentlichung Deutsches Musikinformationszentrum (miz), 06/2021, 17 Seiten)

Zur Veröffentlichung auf der Website von Deutsches Musikinformationszentrum / miz (PDF-Dokument)

Zum miz-Themenportal „Musikwirtschaft“

 

Notendruck und Notenvertrieb

Fachbeitrag in Moser / Scheuermann / Drücke (Hg.): Handbuch der Musikwirtschaft. Völlig neu bearbeitete 7. Auflage 2018. Seite 108-115.

Informationstext vom Verlag C.H. BECK:

In dem Standardwerk der Musikbranche geben 80 namhafte Autoren einen umfassenden Überblick über sämtliche Bereiche der deutschen Musikwirtschaft und ihrer Marktteilnehmer sowie über branchenspezifische Rechtsfragen und Vertragstypen. Unentbehrlich für alle, die im Musikbusiness tätig sind oder sich für diese Branche interessieren.

Komplett neu überarbeitet

Die 7. Auflage berücksichtigt die zum Teil tiefgreifenden Veränderungen durch die Digitalisierung und durchleuchtet den aktuellen Stand der Dinge in all diesen Bereichen. Die Neuauflage zeigt Erkenntnisse und Erfahrungen auf, präsentiert Momentaufnahmen, Case Studies und Analysen, schildert Herausforderungen und Chancen des sich neu ausrichtenden Gesamtsystems der Musikwirtschaft.

Musikstadt Mainz

„Musik ist die herrschende Liebhaberey der Mainzer“

Eine Stadt, in der im Jahr über 400 Klassikkonzerte und noch viel mehr Pop- und Jazzkonzerte stattfinden, muss ein guter Platz für einen Musikverlag sein. Tatsächlich: Mit Schott Musik International hat seit 1770 einer der weltweit größten Musikverlage seinen Sitz in Mainz.

Lenkt der Besucher der Mainzer Altstadt seine Schritte von der Augustinerstraße aus durch den Kirschgarten Richtung Südwesten, steht er, einen schmalen Hausbogen durchschreitend, unversehens vor dem zartgelben Patrizierhaus Weihergarten 5, seit 1792 Stammhaus des Verlages Schott. Weit ist die schwere Holztür des Verlagshauses geöffnet und gibt den Blick auf den idyllischen Innenhof mit seinen Springbrunnen und den aus aller Herren Länder mitgebrachten Sträuchern und Bäumen frei.

Hundertzwanzig Fachleute arbeiten hier an den Notenausgaben, Büchern, Zeitschriften und CDs, die anschließend von weiteren sechzig Mitarbeitern vom Außenlager Mainz-Hechtsheim aus in alle Kontinente verschickt werden. Kinder in der ganzen Welt machen die ersten musikalischen Gehversuche mit Noten aus Mainz, Laien und Profis finden bei Schott Noten in höchster Qualität für Beruf oder Hobby. Die wichtigsten zeitgenössischen Komponisten vertrauen dem Verlag jene Werke an, die auf den Konzert- und Opernbühnen der Welt aufgeführt werden. Zum Unternehmen gehören zwei eigene Tonträgerlabels sowie acht Fachzeitschriften, eine eigene Druckerei und ein modernes Vertriebszentrum, von dem aus neben den eigenen Produkten Titel von über sechzig Fremdverlagen verpackt und versandt werden. Insgesamt betreuen heute 250 Mitarbeiter in den Schott-Filialen von Miami über Mainz bis Tokio Produkte rund um die Musik.

Seit 1770 schreibt das Unternehmen in Familienbesitz eine Erfolgsgeschichte in Noten, in der die Stadt Mainz eine wichtige Rolle spielt. Denn ohne das reiche Musikleben in der kurfürstlichen Residenz wäre der rasche Aufstieg des Verlages im ausgehenden 18. Jahrhundert undenkbar gewesen. Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal, der 1774 die Regierung übernahm, liebte wie sein Vorgänger die Künste. Er organisierte die Hofmusik neu, holte hervorragende Musiker an sein Fürstenhaus und ließ jährlich rund 120 öffentliche „Akademien“, so nannte man die Konzerte der Hofkapelle und reisender Musiker, veranstalten. An Publikum mangelte es nicht, denn in Mainz lebten zahlreiche musikliebende Adlige. Viele von ihnen waren nicht nur eifrige Konzertbesucher, sondern musizierten selbst und führten sogar Opern auf.

Für sie alle brauchte es: Noten! Diesen Bedarf machte sich der junge Musiker und Kupferstecher Bernhard Schott aus Eltville zu Nutze, der zeitweise selbst als Klarinettist in der Hofkapelle spielte. Die Kunst des Notenstichs hatte er nicht nur in Deutschland, sondern auch auf Studienreisen im Ausland sorgfältig studiert. Mit Erfolg: Im Jahr 1780 wurde Bernhard Schott vom Kurfürsten zum „Hofmusikstecher“ ernannt und sein junges Unternehmen mit dem „Privilegium exclusivum“ ausgestattet. Nun durfte er als einziger Kupferstecher im Mainzer Kurstaat Noten herstellen. Als Gegenleistung erhielt er die Auflage, von jedem Werk aus seiner Stecherei ein Exemplar kostenlos an den Kurfürsten zu liefern.

Bernhard Schotts Geschäft, in dem neben Noten auch Schreibwaren und Instrumente zu kaufen waren, lief blendend an. Schott besaß, was man heute ein „feeling“ für den Markt nennen würde: Er druckte, was Musiker spielen wollten, was also „populär“ war. Und das waren in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts vor allem Klavierauszüge und Bearbeitungen beliebter Opern und Ballette sowie Sammelbände mit Instrumental- und Gesangsstücken, die für das Musizieren im privaten Kreis geeignet waren. Werke von Haydn, Mozart (darunter die Erstausgaben seiner Opern Don Giovanni und Die Entführung aus dem Serail), Clementi und Pleyel prägen den Katalog der ersten Jahre. Nach der Gründung des Nationaltheaters verlangten die Käufer speziell nach leicht spielbaren Klavierauszügen jener Opern, die gerade am Mainzer Theater gespielt wurden.

Betrachtet man die erhaltenen frühen Publikationen, so zeigt sich, dass der junge Kupferstecher bereits den Grundstein für die noch heute gültige Philosophie des Hauses Schott legte: Von Anfang an hatte er den Ehrgeiz, akkuratere und schönere Notenausgaben herzustellen als seine Konkurrenten in anderen Ländern. So verbreitete sich der Ruf des Verlages rasch weit über die Grenzen des Kurstaates hinaus, und bald ließen auch andere Verleger ihre Werke bei dem begabten Meister stechen. Dieses handwerkliche Können, das einzigartige Stichbild der Noten aus dem Hause Schott ist Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in die Entwicklung der modernen, digitalen Notenherstellung eingeflossen. Und auch die unverwechselbare Form der einzelnen Note blieb erhalten, obgleich längst nicht mehr mit Zinn- oder Kupferplatte und Stempel gearbeitet wird.

Komponisten und Musiker wissen und wussten dies zu schätzen. So gab Beethoven Schott seine Spätwerke in Verlag, darunter die Neunte Sinfonie und die Missa Solemnis. Die um die Wende zum 19. Jahrhundert überaus modernen französischen Komponisten Adolph Adam und Eugene Aubér veröffentlichten ihre Musik ebenso bei Schott wie Franz Liszt und der Mainzer Peter Cornelius. Bald konnten die Nachkommen von Bernhard Schott ihr Unternehmen jenseits der Grenzen des Landes etablieren: 1824 wurde die Niederlassung in Antwerpen eröffnet, die 1834 nach Brüssel umzog, Paris eröffnete 1826, die in London folgte 1835, Leipzig im Jahr 1840. Franz Schott, einem Enkel des Verlagsgründers, gelang 1859 ein wichtiger Coup: Er konnte Richard Wagner für die Zusammenarbeit mit dem Mainzer Verlagshaus gewinnen, so dass Schott (nach Zahlung bis dato unvorstellbarer, gigantischer Vorschüsse) die Tetralogie Der Ring des Nibelungen, außerdem Die Meistersinger von Nürnberg und Parsifal veröffentlichen konnte. Noch heute versammeln sich die Mitarbeiter und Freunde des Hauses bei besonderen Anlässen in jenem fast unverändert erhaltenen kleinen Saal, in dem Wagner vor hunderteinundvierzig Jahren seinem begeisterten Verleger das Textbuch zu den Meistersingern vorlas.

Im Nachhinein erwies es sich als Glücksfall für die weitere Entwicklung des Verlages, dass im Jahr 1874 die Familie Strecker als Nachfolger für die letzten Schott-Erben eintrat. Die neuen Inhaber hatten nicht nur ein untrügliches Gespür für musikalische Qualität, sondern waren auch echte Genies der Freundschaft und banden so Komponisten wie Igor Stravinsky, Carl Orff und Paul Hindemith an den Verlag. Regelmäßig verkehrten weltberühmte Komponisten und Musiker im Mainzer Weihergarten, so wie später, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, György Ligeti, Jean Francaix, Krysztof Penderecki und Hans Werner Henze. Bis heute besuchen Autoren und Komponisten regelmäßig ihren Mainzer Verleger Peter Hanser-Strecker und jene Fachleute, die an der Redaktion und der Herstellung von Noten oder Büchern arbeiten. Sie alle vertrauen darauf, dass ihr künstlerisches Werk in höchster Qualität von Mainz aus Verbreitung in der internationalen Musikwelt findet.

Übrigens trägt zu dem eingangs erwähnten, reichen Angebot klassischer Konzerte in Mainz auch der Schott-Verlag ein wenig bei: Im Innenhof des Hauses Weihergarten 5 finden ein paar Mal im Jahr bis zu 400 Gäste Platz bei den abendlichen Weihergarten Serenaden. Man muss einmal unter der Blütenpracht der japanischen Kirsche der Musik gelauscht haben, dazu ein Glas Wein getrunken und in den Mainzer Himmel geschaut haben, um zu wissen, dass Mainz ein wunderbarer Ort für einen Musikverlag ist.

© Christiane Krautscheid

Nicholas Drayson: Kleine Vogelkunde Ostafrikas

Von tierischen Schneeballwürgern und menschlichen Turteltauben

Wie jedes Jahr empfehlen wir Ihnen auch heuer wieder das perfekte Buchgeschenk für Weihnachten. Diesmal: „Kleine Vogelkunde Ostafrikas“ von Nicholas Drayson. Titel und Covergestaltung führen gekonnt in die Irre, denn nichts ist dieses Buch weniger als ein ornithologisches Sachbuch. Nur die hübschen Zeichnungen zu Beginn jedes Kapitels stellen den Lesern einige besonders prominente gefiederte Buschbewohner Afrikas vor.

Tatsächlich handelt es sich um die heiter-lakonisch erzählte Liebesgeschichte zwischen Mr. Malik, einem schüchternen Nachkommen indischer Einwanderer (seinen Vornamen zu nennen wäre ein Eingriff in seine Intimsphäre!) und der Vogelkundlerin Rose Mbikwa. Seit Jahren nimmt Mr. Malik jeden Dienstag zu nachtschlafender Zeit an den von ihr veranstalteten und geführten Wanderungen zur Vogelbeobachtung teil. Nicht etwa aus Interesse am Getier. Nein, aus ebenso stiller wie flammender Leidenschaft für Rose. Doch plötzlich taucht aus dem Nichts ein Konkurrent in Nairobi auf, der unseren Helden schon zu Schulzeiten quälte: Der Dandy und Frauenschwarm Harry Khan. Wo Mr. Malik Jahre zögerte, greift Khan beherzt zu, und schon am ersten Abend liegt Rose in seinen Armen – vorerst nur beim Tanz.

Schon aus alter Feindschaft tritt der Playboy Khan eine Wette mit Mr. Malik an: Wer von beiden in einer Woche die größere Zahl exotischer Vögel entdeckt, soll Rose zum alljährlichen Huntclub Ball ausführen dürfen. Unter den strengen Augen ihrer Schiedsrichter, den Mitgliedern des überaus distinguierten Herrenclubs „Asadi“, beginnen die beiden Männer einen Wettlauf mit der Zeit. Während Khan keinen Aufwand an technischem Gerät samt Hubschrauber und Schnellboot scheut, setzt Mr. Malik auf Phantasie und seine lange Erfahrung auf der Vogelpirsch. Wer wird gewinnen, ohne zu betrügen?

Der in England geborene Autor Nicholas Drayson lebte einige Jahre in Afrika und ist ausgebildeter Zoologe. Die „Kleine Vogelkunde Ostafrikas“ ist sein zweiter Roman. Über Schneeballwürger, Hagedasche und Paradiesschnäpper erfährt der Leser darin weniger als erwartet, umso mehr aber über menschliche Turteltauben. Drayson erfand Figuren voll hinreißender Skurrilität, die er in die verrücktesten Situationen führt und ihnen doch stets ihre Würde lässt. Ein warmherziger Roman für kalte Winterabende, der den Leser bisweilen laut auflachen lässt.

© 2009 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 55, Sommer 2009)

Nicholas Drayson: Kleine Vogelkunde Ostafrikas. Kindler Verlag / Rowohlt, Reinbek 2008.

Jhumpa Lahiri: Einmal im Leben

Der Liebe und des Meeres Wellen

Es gibt nur wenige Romane unserer Zeit, die auf 170 Seiten eine so kunstvoll verwobene Geschichte von solch dramatischer Wucht erzählen. Jhumpa Lahiri, die indisch-stämmige Pulitzer-Preis-Trägerin, legt mit „Einmal im Leben“ ein überraschendes Meisterwerk vor, das bescheiden daherkommt und den Leser gerade deshalb überwältigt. Wie subtil hier mit Vor- und Rückblenden, mit Motiven und Symbolen gearbeitet wird, wie dicht die Handlung gestrickt und dabei in einfacher Sprache erzählt wird, verdient höchste Bewunderung.

Die Geschichte wird in drei miteinander verflochtene Episoden erzählt. Am Beginn steht ein langer Brief der dreizehnjährigen Hema an ihre Jugendliebe Kaushik angelegt. Die beiden Protagonisten leben mit ihren Familien in Massachusetts, ihre Eltern sind indische Auswanderer, die Glück und Karriere in der amerikanischen Universitätswelt gemacht haben. Eigentlich verbindet die Jugendlichen nichts als die gemeinsamen bengalischen Wurzeln, deren Bedeutung in der neuen Heimat längst zur Folklore verblasst ist. Während der gemeinsamen Monate verliebt sich Hema unsterblich in Kaushik, sie lernt die Konflikte der Erwachsenenwelt kennen und wird zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert.

In der zweiten Episode ergreift Kaushik das Wort. Er ist inzwischen Student und muss versuchen, sich nach dem Tod der Mutter mit der neuen indischen Familie seines Vaters zu arrangieren. Wie schon seine Eltern prägt ihn das Gefühl, zuhause nicht bleiben und woanders nicht ankommen zu können. Auf einer langen Reise entlang des Meeres – einer Metapher für das Trennende, Unversöhnliche –, lässt er das Elternhaus und seine Jugend hinter sich.

Im dritten Teil übernimmt ein allwissender Erzähler den Bericht. Kaushik eilt als Fotojournalist rastlos von einem Krisenherd zum nächsten. Hema steht nach einer langen unglücklichen Beziehung kurz vor einer Vernunftehe. Kann es Zufall sein, dass sie sich in Rom noch einmal begegnen, just im Augenblick eines erneuten Aufbruchs? Hema plant die Rückkehr nach Kalkutta, Kaushik will eine feste Stelle als Redakteur in Hongkong antreten. Erst jetzt, da sich ihre Lebenswege nach zwanzig Jahren erneut berühren, verlieben sie sich heftig ineinander. Das Meer, das sie in all der Zeit symbolisch trennte, führt schließlich die entscheidende Schicksalswende herbei.

Es gibt nur wenige Romane unserer Zeit, die auf 170 Seiten eine so kunstvoll verwobene Geschichte von solch dramatischer Wucht erzählen. Jhumpa Lahiri, die indisch-stämmige Pulitzer-Preis-Trägerin, legt mit „Einmal im Leben“ ein überraschendes Meisterwerk vor, das bescheiden daherkommt und den Leser gerade deshalb überwältigt. Wie subtil hier mit Vor- und Rückblenden, mit Motiven und Symbolen gearbeitet wird, wie dicht die Handlung gestrickt und dabei in einfacher Sprache erzählt wird, verdient höchste Bewunderung.

Die Geschichte wird in drei miteinander verflochtene Episoden erzählt. Am Beginn steht ein langer Brief der dreizehnjährigen Hema an ihre Jugendliebe Kaushik angelegt. Die beiden Protagonisten leben mit ihren Familien in Massachusetts, ihre Eltern sind indische Auswanderer, die Glück und Karriere in der amerikanischen Universitätswelt gemacht haben. Eigentlich verbindet die Jugendlichen nichts als die gemeinsamen bengalischen Wurzeln, deren Bedeutung in der neuen Heimat längst zur Folklore verblasst ist. Während der gemeinsamen Monate verliebt sich Hema unsterblich in Kaushik, sie lernt die Konflikte der Erwachsenenwelt kennen und wird zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert.

In der zweiten Episode ergreift Kaushik das Wort. Er ist inzwischen Student und muss versuchen, sich nach dem Tod der Mutter mit der neuen indischen Familie seines Vaters zu arrangieren. Wie schon seine Eltern prägt ihn das Gefühl, zuhause nicht bleiben und woanders nicht ankommen zu können. Auf einer langen Reise entlang des Meeres – einer Metapher für das Trennende, Unversöhnliche –, lässt er das Elternhaus und seine Jugend hinter sich.

Im dritten Teil übernimmt ein allwissender Erzähler den Bericht. Kaushik eilt als Fotojournalist rastlos von einem Krisenherd zum nächsten. Hema steht nach einer langen unglücklichen Beziehung kurz vor einer Vernunftehe. Kann es Zufall sein, dass sie sich in Rom noch einmal begegnen, just im Augenblick eines erneuten Aufbruchs? Hema plant die Rückkehr nach Kalkutta, Kaushik will eine feste Stelle als Redakteur in Hongkong antreten. Erst jetzt, da sich ihre Lebenswege nach zwanzig Jahren erneut berühren, verlieben sie sich heftig ineinander. Das Meer, das sie in all der Zeit symbolisch trennte, führt schließlich die entscheidende Schicksalswende herbei.

© 2009 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 54, Frühjahr 2009)

Jhumpa Lahiri: Einmal im Leben. Eine Liebesgeschichte. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008.

Paganini am PC

Musik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert

Informationstext Musikverlag Schott Music:

„Wo steht die Musik heute? Und wo wird sie in den nächsten Jahrzehnten stehen? Gerade die Musik, die fragilste aller Künste, wird geprägt und verändert durch die drei Megatrends des neuen Jahrhunderts: Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung. Und während sie von diesen Tendenzen, die zu einer immer stärkeren Beschleunigung, zu gesteigerter Komplexität und neuen Unübersichtlichkeiten führen, mitgetragen wird, ist sie für viele ein Weg zurück: Ein Mittel der Entschleunigung, Heilung, ein Weg zu neuer Gemeinschaft und Spiritualität.

In diesem Band diskutieren führende Fachleute über den Stellenwert der Musik in unserer Gesellschaft und über die Veränderungen, die sich für die Produktion, Rezeption und Distribution von Musik ergeben werden. Die Beiträge spannen einen Bogen, der von der Rolle der Musik in der Medizin bis hin zur Frage nach dem Schutz musikalischer Urheberrechte im 21. Jahrhundert reicht.“

Herausgegeben von Christiane Krautscheid, Stefan Pegatzky und Rolf W. Stoll, Schott Music, Mainz 2009, 188 Seiten.

Zur Publikation auf der Website von Schott Music

Monika Maron: Ach Glück

Die Liebe zum Hund, das Streben nach Glück

In reichen Ländern sind die Menschen ständig auf der Suche nach dem Glück. Manche spielen Lotto, andere träumen von einem Prinzen oder lassen sich die Brüste in der Hoffnung auf ein besseres Leben vergrößern. So ergeht es auch der Heldin Johanna in Monika Marons neuem Roman. Die größte Herausforderung ihres gutbürgerlichen Berliner Lebens besteht in der Beantwortung der Frage, in welchem Café das Frühstück eingenommen wird. Kein Wunder, dass sich Frust und Ennui breit machen.

Doch dann platzt an einer Autobahnausfahrt ein verlassener zotteliger Mischlingshund in ihr Leben. Dieser neue Hausgenosse quittiert Johannas Launen mit ergebener Zuneigung – ganz anders als Ehemann Achim, der es sich in den Sphären seiner Kleist-Forschung gemütlich gemacht hat. Es gibt es also, das große Liebesglück – wenn auch nicht zwischen den Eheleuten. Der Hund scheint Johannas träge dahin fließendem Leben frischen Atem einzuhauchen. Sie beginnt eine Affäre mit einem russischen Galeristen (der erwartungsgemäß „Igor“ heißt), findet einen neuen Job und macht sich auf Einladung einer mysteriösen Unbekannten hin sogar auf eine Reise nach Mexiko.

„Ach Glück“ ist die Fortsetzung von Monika Marons Roman „Endmoränen“ (2002), aus dem wir die Figuren und deren Glückssuche schon kennen. Maron zeichnet ihre Heldin Johanna verständnisvoll, aber dieses Mal mit spöttischer Distanz: Gesund und wohl situiert älter zu werden, ist nun mal kein nachvollziehbarer Grund für Depressionen. Und so verliert man sein Leserherz eher an Achim, der sich in seine mittelmäßige, aber annehmliche Existenz fügt und den Aufbruch seiner Frau mit Misstrauen beobachtet. „Jedem Anfang liegt ein Zauber inne“, wusste Hermann Hesse. Johannas Neuanfang liegt vor allem die Notwendigkeit eines Folgeromans inne. Denn „Ach Glück“ endet mit Johannas aufgeregter Ankunft in Mexiko. Ob sie hier findet, was ihr zum Glück fehlt? Das möchte man doch unbedingt wissen.

© 2008 Christiane Krautscheid (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin Sommer 2008)

Monika Maron: Ach Glück. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2007.

Henze „Die Bassariden“

Zur Rezeptionsgeschichte der „Bassariden“

Hans Werner Henze: Die Bassariden

I.

Als sich der Vorhang am 6. August 1966 im Salzburger Festspielhaus nach über zweieinhalb Stunden Aufführung ohne Pause senkte, ließ Hans Werner Henzes neue Oper Die Bassariden das Publikum erschöpft und begeistert zurück. Dirigent Christoph von Dohnányi und das künstlerische Team um Regisseur Rudolf Sellner ernteten stürmischen Beifall. In den Jubel für den Komponisten mischten sich kaum Proteste, im Gegenteil: Es schien, als habe sich das Publikum von der unmittelbaren Emotionalität der Musik hypnotisieren lassen und die politischen Fragestellungen ebenso wie die formale Strenge dieser Oper in Symphonieform schlichtweg überhört.

Die Rezensenten der deutschen und internationalen Feuilletons schlossen sich dem Publikumsvotum weitgehend an und waren voll Bewunderung für die kompositorischen Mittel, die dem kaum vierzigjährigen Henze zur Verfügung standen: „Alles verschmilzt zur Einheit eines vollen und mächtigen Gesamtklanges, geprägt von der Persönlichkeit des Komponisten, dem in der Bewältigung dieses ebenso großartigen wie schrecklichen Stoffes die bisher stärkste Konzentration seiner schöpferischen Kräfte gelungen ist.“ (Tagesspiegel) Die wenigen kritischen Kommentare zur Musik warfen Henze nicht etwa die extreme Komplexität der Komposition vor, sondern, ganz im Gegenteil, unzeitgemäßen Klassizismus und Flucht in musikalischen Ästhetizismus (Die Zeit). Der F.A.Z.-Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt war keineswegs der Einzige, der halb ungläubig, halb hingerissen in Henze einen neuen Richard Strauss zu erblicken glaubte.

Bei Henze aber löste die uneingeschränkt affirmative Aufnahme durch das konservative Salzburger Publikum und vor allem der Vergleich mit Richard Strauss nur eines aus: Verstörung. Und das tiefe Gefühl, nicht verstanden zu werden. Einige Jahre zuvor hatte Henze der Bundesrepublik und ihrer Musikszene den Rücken gekehrt und war nach Italien übergesiedelt. Dem Rigorismus der Neuen Musik in Donaueschingen und Darmstadt hatte er aus tiefer Überzeugung nicht folgen wollen. Aber Hoffnungsträger eines restaurativen Neoklassizismus‘, ja „ersehnter Erbe von Richard Strauss“ und damit Liebling des konservativen Opernbetriebs wollte er erst recht nicht sein. Der Musikwissenschaftler Wolfram Schwinger beschrieb Henzes Erschrecken später so: „Fast alle haben seinerzeit Strauss als den Kronzeugen der Bassariden-Musik benannt. Die Komposition wurde geschlürft, genossen – ohne die Strenge ihrer sinfonischen Form und die artifizielle Bearbeitung ihres thematischen Materials zu begreifen. Das hat Henze sehr getroffen. Er war verwirrt, er kam sich schuldig vor.“ Und Henze bekannte, dass er dieses Lob als schreckliches Missverständnis empfunden habe: „Strauss ist einer der letzten, dessen Nachfolger ich sein möchte. Das war plötzlich so, als würde ich eingeladen, eine Rolle zu spielen, eine restaurative, die mich doch überhaupt nicht interessierte und interessiert.“

Nicht nur gegen die Bewunderer des klangschön Sinnlichen der Musik glaubte Henze sein Stück in Schutz nehmen zu müssen. Sondern auch gegen die völlig unpolitische Lesart der Bassariden: „Dieses Stück ist eine Tragödie, eine Trauersinfonie, ein Requiem, das mit einem Gloria endet. Es geht um die Wahrheit, die ist ernst, schwierig und grausam – und nicht kulinarisch“, sagte er 1966 in einem Gespräch. Zehn Jahre später präzisierte er, es sei ihm in den Bassariden gerade um gesellschaftliche bzw. politische Antipoden gegangen: „Ungeheuer modern und uns angehend und eigentlich auch die Jahre um 1968 angehend sind eben die Fragen: ‚Was ist Freiheit, was ist Unfreiheit? Was ist Repression, was ist Revolte, was ist Revolution?‘ “ Dass die Bassariden tatsächlich in ihrem Kern eine politisch-humanistische Parabel waren, grundiert vom persönlichen Erleben der Nazidiktatur und die Zuspitzung der 68er-Konflikte vorwegnehmend, hatte das berauschte Uraufführungspublikum nicht hören wollen oder können.

Aus der verwirrenden Wirkung seiner Oper zog Henze Konsequenzen: Die Bassariden wurden zum Wendepunkt in seinem Schaffen, hin zu einem eindeutigen Bekenntnis zur Kunst als Ort politischer Stellungnahme und hin zum Engagement für die Ideale von Humanismus und Gerechtigkeit. Sowohl in der persönlichen Lebensplanung als auch in der künstlerischen Produktion radikalisierte er seine Positionen; er reiste zu einem mehrmonatigen Aufenthalt nach Kuba und solidarisierte sich mit der internationalen Studentenbewegung. Als nächstes musikalisches Großwerk komponierte er 1968 mit dem Oratorium Das Floß der Medusa eine unmissverständliche confessio zum politischen Künstlertum und zur Humanität, 1969 folgte die Sinfonia N.6, 1970 El Cimarrón. Und in seinem Aufsatz Musik als Akt der Verzweiflung sagte er 1968: „Wo immer Kunst noch sich positivistisch geben will, verhält sie sich als lügenhaftes Abziehbild von Kultur.“

II.

Bejubelt, verpönt, wieder entdeckt: Es gibt kaum eine andere Oper der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Rezeptionsgeschichte so spannend, von schicksalhaften Einflüssen bestimmt, vor allem aber von so hoher Aussagekraft über die geistige Verfassung der Bundesrepublik in den vergangenen vierzig Jahren ist. Doch schauen wir zunächst noch einmal zurück auf die Rezeption der Uraufführung. Schon in den ersten Kritiken wurde die Frage nach der Repertoirefähigkeit der Bassariden gestellt. Die Skeptiker bezogen sich hauptsächlich auf das ohne Kenntnis der Vorgeschichte kaum verständliche Libretto mit seinen „mythologischen Schrotladungen“ (Stuckenschmidt). In Verbindung mit der riesigen Besetzung, der kompositorischen Komplexität und den Ausmaßen von zweieinhalb Stunden ohne Pause wurde bezweifelt, dass einem derart ambitionierten Werk dauerhaftes Fortleben auf der Bühne beschieden sein könne. Die Salzburger Nachrichten fragten: „Haben die ‚Bassariden‘ von Hans Werner Henze bei ihrer Uraufführung Erfolg gehabt und, wenn ja, welche Chancen bestehen dafür, dass dieser Erfolg dem neuen Werk auch weiterhin treu bleiben wird?“ Zwei Aspekte, so meinte der Rezensent, stünden dem entgegen: „Erstens: Ein Opernwerk, das vom Zuhörer ein hohes Maß an ständiger, intensiver Konzentration verlangt und eine pausenlose Spieldauer von zweieinhalb Stunden – also wesentlich länger als ‚Elektra‘ oder ‚Salome‘ – aufweist, ist ein Nonsens. Zweitens: Das mit Allegorien, Symbolismen weit überfrachtete Libretto wird weitestgehend unverständlich bleiben.“

Nach der deutschen Erstaufführung in Berlin (die Salzburger Uraufführung war eine Gemeinschaftsproduktion mit der Deutschen Oper Berlin), die vom Publikum noch enthusiastischer gefeiert wurde als die Uraufführung, wurde die Frage nach der Repertoirefähigkeit wiederholt. Die Süddeutsche Zeitung meinte: „Die Tatsache, dass nur die größten und mit den reichsten Mitteln ausgestatteten Theater das Werk aufführen können, wird Henzes ‚Bassariden‘ zu einer Rarität im Repertoire der Opernbühnen werden lassen.“

Doch zunächst stießen Die Bassariden auf reges Interesse ausländischer Opernhäuser. Die Mailänder Aufführung zeigte 1968, dass sich auch die neue Heimat des Komponisten für das anspruchsvolle Bühnenwerk begeistern ließ. Wichtige Protagonisten der Salzburger und der Berliner Produktion waren wieder dabei: Loren Driscoll als Dionysos, Kostas Paskalis als Pentheus und Kerstin Meyer als Agaue, diesmal unter der Stabführung von Nino Sanzogno. Die exzellente Übersetzung des Librettos durch Fedele D’Amico ins Italienische trug ebenso zur positiven Aufnahme des Stücks durch das Mailänder Publikum bei wie die zwar unkünstlerische, aber annehmliche Pausenregelung, die die Scala durchsetzte: Das viersätzige Werk wurde durch zwei Pausen in drei „Akte“ geteilt.

Im gleichen Sommer sollte in Santa Fe die amerikanische Erstaufführung stattfinden. Aber das Amphitheater, das bereits Henzes Boulevard Solitude als erstes Opernhaus in Amerika gezeigt hatte, war im Jahr zuvor bis auf die Grundmauern abgebrannt. Für den Kritiker der New York Times, Harold C. Schonberg, grenzt es an ein Wunder, dass in knapp neun Monaten pünktlich zur Premiere der Bassariden ein neues, architektonisch spektakuläres Theater mit verbesserter Akustik und moderner Bühnentechnik fertig gestellt war. Hier wurde die Oper Henzes, den Schonberg als „the hottest opera composer since Benjamin Britten“ bezeichnete, erstmals in der englischen Originalsprache gespielt. Henze dirigierte die Aufführungen selbst und entschied sich, das Intermezzo Das Urteil der Kalliope wegzulassen, wodurch die Handlung gestrafft und die Oper um zwanzig Minuten kürzer wurde. Von 1992 an betrachtete der Komponist diese Fassung als allein gültige.

Es folgten Produktionen in Los Angeles (1969) und London (1974). In London übernahm der Komponist nicht nur die musikalische Leitung, sondern inszenierte sein Stück auch selbst. Dieses Mal war es kein Brand, der die Aufführung gefährdete, sondern ein Streik der Bühnenarbeiter, der zufällig mit der Proben- und Aufführungsphase der Bassariden zusammenfiel. Die Welt berichtete am 11. November 1974: „Die English National Opera in London hat wegen eines Arbeitskonflikts mit dem technischen Bühnenpersonal bis auf weiteres alle Vorstellungen abgesagt. Nachdem die Intendanz am Dienstag 46 Bühnentechniker entlassen hatte, weil sie eine Aufführung von Henzes Oper ‚Die Bassariden‘ boykottierten, erklärten sich die übrigen 80 Techniker und Bühnenarbeiter mit ihren entlassenen Kollegen solidarisch.“ Trotzdem konnte das Londoner Publikum die Antikenoper schließlich auf der Bühne erleben, und zwar mitsamt des Intermezzos, das Henze neu instrumentierte: Um das Satyrspiel deutlicher von der umgebenden Musik abzusetzen, reduzierte Henze die Besetzung auf nur zwei Instrumente, Cembalo und Mandoline. Erstmals – acht Jahre nach der Uraufführung und um die Erfahrung der internationalen Studenten- und Bürgerproteste reicher – betonten und würdigten einige Kritiker den starken Bezug der Bassariden zur Gegenwart ebenso wie den humanistisch-politischen Gehalt des Stückes.

III.

In Deutschland hingegen behielten jene skeptischen Stimmen Recht, die dem Werk die Repertoirefähigkeit abgesprochen hatten. Lag das an den spieltechnischen Anforderungen, der Länge oder der benötigten Orchester- und Chorstärke? Ganz sicher nicht, denn ausländischen Bühnen bereitete das Stück offensichtlich keine Schwierigkeiten. Es müssen äußere, nicht werkimmanente Gründe hinzugekommen sein, warum die Bassariden nicht gespielt wurden. Ein Blick auf die Aufführungszahlen von Henzes Werken gibt die Antwort: Ab etwa 1966 ist speziell in Deutschland ein rapider Rückgang zu verzeichnen, der Henzes gesamtes Werk betraf. Offensichtlich richtete sich die Ablehnung gegen die Person des Komponisten selbst. Auslöser war eindeutig Henzes als „Radikalisierung“ verstandenes politisches Engagement, das von dieser Zeit an offen in Aufsätzen und Interviews zu Tage trat. Es führte dazu, dass seine Person und damit seine Musik von großen Teilen des konservativen deutschen Musikbetriebes ignoriert, von manchen sogar explizit abgelehnt wurden. Heute ist das schwer nachzuvollziehen. Doch dem „Hoffnungsträger“ mochte man nicht verzeihen, dass er nicht nur nach dem künstlerisch Schönen, sondern leidenschaftlich auch nach dem moralisch Wahren und Richtigen suchte und beides zu verbinden wünschte. Unter den generellen Bann fielen auch die Bassariden: zehn Jahre lang wurden sie mit konsequenter Nichtachtung gestraft und von keiner deutschen Bühne neu inszeniert. Erst im Jahr 1975 war an den Städtischen Bühnen Frankfurt eine Übernahme der English National Opera-Produktion aus dem Vorjahr zu sehen.

Ein deutsches Theater abseits der Metropolen, das Oldenburgische Staatstheater, bewies 1978, dass keineswegs nur die „größten und mit den reichsten Mitteln ausgestatteten Theater das Werk aufführen können“. Die F.A.Z. titelte begeistert: „Grandiose Mut- und Leistungsprobe einer kleinen Oper“. Sowohl musikalisch (unter der Leitung des jungen Generalmusikdirektors Wolfgang Schmid) als auch durch die psychologisierende, klar strukturierte Inszenierung von Hans Peter Lehmann überzeugte die Produktion ihr Publikum und die Kritik. Und dennoch: Ein weiteres Jahrzehnt, bis Ende der 80er Jahre fühlte sich keine andere deutsche Bühne zur Auseinandersetzung mit dem Stück ermutigt.

Die entscheidende Wende in der Rezeptionsgeschichte der Bassariden leitete eine konzertante Aufführung der Berliner Festwochen 1986 ein, die auf Initiative von Gerd Albrecht zustande gekommen war. In Zusammenarbeit mit dem RIAS und der Deutschen Oper erarbeiteten der Dirigent, Sänger wie Karan Armstrong, Kenneth Riegel, Andreas Schmidt und Robert Tear, das Radio-Symphonie-Orchester und die Chöre von RIAS und Süddeutschem Rundfunk eine überzeugende Interpretation, die, so Henze in seinen Erinnerungen, „mit einem Schlag den beklemmenden Bann von der Bassariden-Musik“ nahm. Henze hatte sich im Vorfeld gemeinsam mit Albrecht entschieden, auf das Intermezzo zu verzichten, und der auf diese Weise deutlich straffere Erzählfluss erleichterte die Rezeption erheblich. 1991 erschien diese exemplarische Produktion auf CD und schuf so eine wichtige Voraussetzung für die Verbreitung und das tiefere Verständnis des Werks.

Im Publikum de konzertanten Berliner Aufführung saß der Regisseur Götz Friedrich. Er erkannte sofort die Aktualität und Brisanz des Stückes und setzte alles daran, die Bassariden so schnell wie möglich auf einer großen deutschen Bühne neu zu inszenieren. Zusätzlich kamen die äußeren politischen Ereignisse dem Stück entscheidend zu Hilfe: jene Erosionen, die in vielen totalitär geführten Staaten, auch der DDR, schließlich zum Zusammenbruch des Systems führten.

Drei Jahre später, im Jahr der Maueröffnung, war es an der Stuttgarter Staatsoper soweit. Von welch ungeheurer Bedeutungskraft muss angesichts der „Abstimmung mit den Füßen“ durch die Bürger der DDR und anderer osteuropäischer Länder die Frage des Pentheus im ersten Satz „Hauptmann! Wo ist mein Volk?“ gewesen sein! Als hätten Henze und seine Librettisten diese Entwicklung bereits vor zwanzig Jahre vorausgeahnt. „Es ist frappierend“, so Friedrich im Programmheft, „wie das Werk heutigen Fragestellungen standhält oder sie aufgreift, auch und gerade, wo sie sich im gesellschaftlichen Raum neu auftun (…). Die Bassariden reagieren auf solche Befragung auf vielfältige Weise und können dies umso eher, weil sie auf mehreren Ebenen und in unterschiedlichen Schichtungen den alten Stoff des Euripides aufarbeiten und ihn heutiger Assoziationsbereitschaft anbieten.“ Die Stuttgarter Nachrichten schrieben: „Die Zeit heilt nicht nur Wunden; sie sorgt mit ihren nicht genau vorher bestimmbaren Entwicklungen auch dafür, dass Ideen, Überlegungen, Erscheinungen plötzlich wieder aktuell werden, die man längst abgehakt und eingeordnet oder als noch nicht reif angesehen hat. (…) Die Ereignisse in der DDR haben dazu beigetragen, Henzes Bassariden eine für Bühnenproduktionen ungewöhnliche tagespolitische Aktualität zuwachsen zu lassen.“

IV.

Tatsächlich löste sich mit der Stuttgarter Aufführung schlagartig der Bann, der auf der Oper lastete, und in den nächsten acht Jahren folgten allein in Deutschland vier Neuproduktionen (Duisburg 1991, Freiburg 1992, Hamburg 1994 und Dresden 1997, letztere auch als Gastspiel 1999 in Madrid). Im Jahr 2005 setzen gleich drei Opernhäuser die Bassariden auf den Spielplan: Paris, Köln und Amsterdam. Zum zweiten Mal seit ihrer Entstehung wurden die Bassariden Opfer eines Streiks: Die französische Erstaufführung am Théâtre du Châtelet geriet 2005 unglücklich in den Tarifstreit zwischen Radio France und der Berufsgruppe der Orchesterwarte. Dank des Engagements von Dirigent Kazushi Ono und seiner Korrepetitoren entstand innerhalb weniger Tage eine Fassung für 21 Instrumente (eben jene, die man bekommen konnte, darunter drei Klaviere, aber weder Bläser noch Streicher) anstelle der 90 Musiker umfassenden Originalbesetzung.

Über vierzig Jahre nach der Uraufführung ist Henzes Oper jetzt erstmals auf der Bühne der Münchner Staatsoper zu sehen. Im Jahr 1996 gab es anlässlich des 70. Geburtstages des Komponisten bereits eine konzertante Aufführung, doch ohne die szenische Darstellung fand das Münchner Publikum seinerzeit keinen rechten Zugang zum Werk und reagierte zwiespältig. Nun haben sich Dirigent Marc Albrecht und Regisseur Christof Loy entschlossen, Henzes opus magnum erstmals wieder in seiner originalen Gestalt, also mit dem Intermezzo Das Urteil der Kalliope in ursprünglicher Besetzung und ohne Unterbrechung durch eine Pause, aufzuführen. Auf diese Weise schlagen sie einen spannungsvollen Bogen zurück zur Uraufführung.

Heutige Opernbesucher, Musiker und Kritiker sind den Hörern der Uraufführung weit voraus: um vierzig Jahre Zeitgeschehen und vierzig Jahre Musikgeschichte. Im Jahr 1966 würdigte man zwar das hellsichtige Psychogramm der Handlung und die Sinnlichkeit der Musik. Doch ästhetisch und politisch mussten die Bassariden missverstanden werden. Ästhetisch wird erst in der Rückschau deutlich, dass die Oper in ihrer stilistischen Vielfalt, im Reichtum der Anspielungen und der Fülle von Traditionsbezügen eine erstaunliche Vorwegnahme der späteren Postmoderne war. Politisch können wir erst heute erkennen, dass Henze und seine Librettisten 1966 nicht nur die Diktatur der deutschen Vergangenheit reflektierten, sondern auch Aspekte der späteren Revolutionsbewegungen und des zwangsläufigen Zusammenbruchs autoritärer Systeme erahnte. Erst jetzt scheint der Zeitpunkt gekommen, an dem wir alle Aspekte dieses visionären Werkes wirklich würdigen können.

© 2008 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Programmheft der Bayerischen Staatsoper, 19.05.2008)

Alex Capus: Eine Frage der Zeit

Im kolonialen Dschungelcamp

Wäre die Geschichte nicht hieb- und stichfest verbürgt und in Militärarchiven nachzulesen, man müsste dem Autor einen Hang zur maßlosen Übertreibung vorwerfen. Gut erfunden, lieber Capus, aber allzu absurd! Doch der Schweizer Romancier hält sich weitgehend an historische Fakten und verwebt diese zu einer fesselnden, ziemlich verrückten Erzählung.

„Eine Frage der Zeit“ beginnt im Jahr 1913. Die Gebiete der Kolonialmächte Deutschland und England berühren sich am ostafrikanischen Tanganikasee. Wer die Seehoheit auf diesem Gewässer hat, verfügt über wichtige strategische Vorteile. Aber dazu braucht man vor allem eines: Schiffe.

Auf deutscher Seite erhalten drei brave Papenburger Schiffsbauer den abenteuerlichen Auftrag, das gerade erst fertig gestellte Dampfschiff „Graf Götzen“ in seine Einzelteile zu zerlegen und in 5.000 Kisten verpackt nach Afrika zu verbringen. Fast zeitgleich schlägt in London die Stunde des Oberstleutnant Spicer Simson, eines erfolglosen Hasadeurs und begnadeten Aufschneiders. Die Royal Navy beruft ihn dazu, unter strengster Geheimhaltung zwei Ausflugsschiffe zu Kanonenbooten umzubauen und ins Herz Afrikas zu transportieren. Am Tanganikasee soll er damit die Schiffe der gegnerischen Deutschen versenken. Spicer wittert die Chance auf einen Platz in den Geschichtsbüchern. Es gelingt ihm, seine ungewöhnliche Fracht mit Hilfe von zwei Dampfzugmaschinen, 5.000 afrikanischen Trägern und 500 prachtvollen Ochsen tausende Kilometer von der afrikanischen Küste über die Berge und durch den tropischen Dschungel ans Ziel zu bringen.

Nun liegen sich die verfeindeten Truppen an den Ufern des Sees gegenüber. Die norddeutschen Schiffsbauer haben sich in der Hitze des Dschungels wohlig eingerichtet und Freunde unter den einheimischen Massai gefunden. Doch die afrikanische Idylle endet schlagartig, als in Europa der Krieg ausbricht und die Ingenieure höchst widerwillig ein Teil des deutschen Heeres werden. Die Schiffsbauer setzen alles daran, die Montage der „Graf Götzen“ zu verzögern und so ihren Kriegseinsatz zu sabotieren. Auf der Gegenseite verliert auch Spicer nach ersten Kampferlebnissen die Lust am Krieg. Nach kurzer Zeit teilen die Männer eines, ganz gleich, ob Commander im Auftrag der britischen Krone oder Ingenieur im Dienst des deutschen Kaisers: Die Einsicht in den Irrsinn ihres Tuns.

Diese unglaubliche Geschichte erzählt Capus mit großartigem Sinn für Ironie, Liebe zu seinen sonderlichen Helden und feinem Spott auf die Albernheit des Exerzierens in knietiefem Dschungelschlamm. So ist dieser Roman nicht nur ein herrliches Lesevergnügen, sondern erinnert uns auch daran, dass eine so abstruse Geschichte vor nicht einmal hundert Jahren Wirklichkeit werden konnte.

© 2008 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 50, Frühjahr 2008)

Alex Capus: Eine Frage der Zeit. Knaus Verlag, München 2007.

Wlodzimierz Odojewski: Ein Sommer in Venedig

Der Gondoliere im Waschzuber

Auf nach Venedig! Schon lange freut sich Marek auf diese Reise. Aus den phantastischen Erzählungen seiner Eltern und Tanten von den Plätzen, Kathedralen, den Lagunen und Brücken hat er sich eine Stadt der Träume gebaut und wartet nun sehnsüchtig auf das Abenteuer. Doch als die Abreise näher rückt, zeichnet sich am Horizont das Herannahen des zweiten Weltkrieges ab. Statt gen Süden geht die Fahrt nun ins polnische Hinterland zu Tante Weronika. Nach und nach treffen immer weitere Verwandte ein, Cousinen, Tanten, Mareks Bruder, sie alle finden bei Weronika sichere Zuflucht und heitere Zuversicht. Sie besitzt nicht nur eine prachtvolle Villa samt herrlichem Obstgarten, sondern auch eine blühende Phantasie und einen schwärmerischen Sinn für alles Schöne. So wird ein Wasserschaden im weitläufigen Kellergewölbe kurzerhand zur mirakulösen Thermalquelle erklärt. Und der neunjährige Marek sieht im Sommer 1939 doch noch sein Venedig, ohne auch nur einen Kilometer zu reisen – viel leuchtender, als es in Wirklichkeit je hätte sein können.

Dieser kurze, naiv-tragische Roman ist eine hinreißende literarische Entdeckung. Dem polnischen Autor Wlodimierz Odojewski, Jahrgang 1930, gelingt das Kunststück, glaubwürdig aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen. Wir erleben einen herrlichen Sommer, aber auch den Beginn von Krieg und Flucht mit den wachen Sinnen eines kleinen Jungen, der nichts versteht und doch binnen weniger Wochen erwachsen werden muss. Seine liebevollen Tanten setzen alles daran, den düsteren Ereignissen die Macht des Träumens entgegenzusetzen. „Die Phantasie kann in den allerschrecklichsten Augenblicken eine Zuflucht sein…“, erklärt Tante Weronika und schafft Marek und seinen Cousinen inmitten der bedrohlichen Kulisse eine poetische, von bunten Lampions erleuchtete Idylle. Doch ein Mittel gegen das Erwachsenwerden kennt selbst die tolle Tante nicht.

Unmöglich, von dieser außerordentlichen Erzählung nicht berührt zu sein. Wer noch ein kleines, besonderes sucht, dem sei das schön gestaltete Buch sehr empfohlen.

© 2007 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck Gate – Das Airport Magazin 49, Winter 2007/08)

Wlodzimierz Odojewski: Ein Sommer in Venedig. SchirmerGraf Verlag. München 2007.