Brahms Violinkonzert op. 77

„Ich bin ohne Anleitung vom Schlechtesten zum Besten gedrungen…“

Das bürgerlich-demokratische Violinkonzert von Johannes Brahms

Der Komponist als Aktionär – das passt nicht in unser romantisches Bild vom mittellosen, oft verkannten musikalischen Genie. Johannes Brahms allerdings war alles andere als arm, sondern ein erfolgreicher Teilhaber verschiedener Unternehmen, der mit seinen Börsenpapieren solide Gewinne erzielte. Nicht gleich von Anbeginn, aber etwa ab der Komposition des „Deutschen Requiems“ im Jahr 1868 erhielt Brahms beachtliche Honorare. Hatte er für seine ersten Werke etwa hundert Mark bekommen, so zahlte ihm der Verleger Simrock für jede seiner Symphonien 15.000 Mark und stellte ihm des weiteren frei, fortan die Honorare selbst festzulegen. Außerdem gelang es Brahms, seine Einkünfte durch Sparsamkeit und geschickte Bankanlagen zu mehren, ja sogar zu einem stattlichen Vermögen zu machen. Der Biograph Max Kalbeck berichtet, Brahms‘ „mit der Zähigkeit eines Sparmeisters ausgeführter und eingehaltener Finanzplan zeichnete sich durch große Einfachheit aus; er bestand in nichts anderem als in der Absicht, die immer ansehnlicher werdenden Verlagshonorare vollständig beiseite zu legen und Zins auf Zins zu kapitalisieren.“ Offensichtlich lag Brahms in erster Linie daran, seinen Besitz zu sichern als ihn durch riskante Anleihen zu vermehren. Über sein Vermögen und den Umgang damit äußerte er sich zu Hermann Levi folgendermaßen: „Ich verdiene, was ich gebrauche. Mit dem liegenden Geld mache ich keinerlei Geschäfte, ich gebrauche es vielleicht niemals für mich, sondern kann es den Meinen hinterlassen. Ich verstehe absolut nichts von Geldsachen, interessiere mich nicht im Geringsten irgend dafür; an eine Vermehrung des Kapitals durch höhere Zinsen habe ich keine Ursache zu denken deshalb nur möchte ich möglichst gar nicht an mein Geld zu denken haben […].“

Brahms darf vermutlich als erster Komponist gelten, der mit seinen Werken ein reicher Mann wurde. Trotz seiner komfortablen Lage lebte er ausgesprochen bescheiden, logierte auf seinen Reisen meist bei Freunden statt in Hotels und Pensionen und aß lieber in deftigen Wiener „Schwemmen“ als in vornehmen Speiselokalen. Im Verhältnis zum Ruhm und der materiellen Anerkennung, die er schon zu Lebzeiten erfuhr, mutet sein alltägliches Dasein beinahe spartanisch an.

Man muss sich wohl die Herkunft des Komponisten vor Augen halten, um seine Entscheidung für diese Lebensweise zu verstehen. Brahms war ein erstaunlicher gesellschaftlicher Aufstieg gelungen: Er war keineswegs in die Klasse geboren worden, in der er sich später bewegte. Die Sphäre der einfachen Handwerker und Händler, in der er aufwuchs, hatte wenig mit jener des gebildeten Großbürgertums gemein, aus der sich seine späteren Zuhörer, Freunde und Verleger rekrutierten. Dieser Tatsache war sich Brahms bewusst, in verschiedenen Lebenszeugnissen hat er an die „Zeit der Dürftigkeit“ erinnert. Seinen Aufstieg verdankte er hauptsächlich, aber nicht ausschließlich seiner Begabung. Durch konsequente Selbstbildung hatte sich der junge Komponist Zugang zu Wissen verschafft, das eine, vielleicht die entscheidende identitätsstiftendes Maxime der bürgerlichen Klasse war. „Ich lege all mein Geld in Büchern an, Bücher sind meine höchste Lust, ich habe von Kindesbeinen an soviel gelesen, wie ich nur konnte, und bin ohne alle Anleitung aus dem Schlechtesten zum Besten gedrungen.“ Die Angst davor, den gesellschaftlichen Status und die erarbeitete materielle Sicherheit wieder zu verlieren, muss eine Antriebskraft seiner Sparsamkeit, Disziplin und seines ungeheuren Fleißes gewesen sein.

Was aber hat dieser lebensgeschichtliche Hintergrund mit dem Violinkonzert op. 77, überhaupt mit dem künstlerischen Werk von Johannes Brahms zu tun? Sehr viel. Denn das junge Selbstbewusstseins des Bürgertums Mitte des 19. Jahrhunderts gründete in der Überzeugung, dass nicht die Geburt, sondern individuelle Leistung den gesellschaftlichen Rang eines Menschen bestimme. Dieses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, in die Fruchtbarkeit harter Arbeit und strenger Disziplin prägt im Fall von Brahms nicht nur die Lebensform, sondern auch den kreativen, den kompositorischen Prozess. Schon die ersten Kritiker und Biographen haben hier einen Zusammenhang vermutet, ohne ihn genauer beschreiben zu können. Sie bemerkten, dass Brahms seine Werke – anders als etwa sein Entdecker und Förderer Robert Schumann – weniger dem Furor der Eingebung, der genialen Idee als vielmehr der soliden, handwerklich-satztechnischen Arbeit verdankte. Brahms selbst hat das Verhältnis von Einfall und Arbeit so beschrieben: „Das, was man eigentlich Erfindung nennt, also ein wirklicher Gedanke, ist sozusagen höhere Eingebung, Inspiration, d.h. dafür kann ich nichts. Von dem Moment an kann ich dies ‚Geschenk‘ gar nicht genug verachten, ich muß es durch unaufhörliche Arbeit zu meinem rechtmäßigen, wohlerworbenen Eigentum machen.“

Bereits der erste Rezensent Eduard Hanslick betonte die komplexe, „gearbeitete“ Struktur des Violinkonzertes op. 77, er nannte es in seiner Konzertkritik aus dem Jahr 1879 ein „Musikstück von meisterhaft formender und verarbeitender Kunst“ und fürchtete, gerade das werde den Zuspruch des Publikums mindern. „Es fehlt [dem Violinkonzert] die unmittelbare verständliche und entzückende Melodie, der nicht bloß im Beginn, sondern im ganzen Verlauf klare rhythmische Fluß, wodurch das Beethovensche und Mendelssohnsche Konzert so einzig wirken. Manche herrliche Gedanken kommen nicht zur vollen Wirkung, weil sie zu rasch verschwinden oder zu dicht umrankt sind von kunstvollem Geflecht.“ Mit dem „kunstvollen Geflecht“ bezeichnet Hanslick das Gegenteil des Genialischen, das kontrapunktisch Konstruierte und also um 1870 „Veraltete“ des Werkes.

Genau darin aber ist wiederum ein „bürgerlicher“ Zug des Brahmsschen Komponierens zu erkennen: der romantischen Originalität eines Wagner und Liszt, ihrem Anspruch an die Musik, Religionsersatz und Welterklärung zu leisten, stand Brahms fern. Für ihn galt es, eine überlieferte Kulturleistung zu bewahren, aus deren Besitz sich das Selbstbewusstsein des Bildungsbürgers speiste. So tastete er sich systematisch zu den „handwerklichen“ Wurzeln der europäischen Musikkultur zurück, zur Polyphonie Palestrinas, zur Bachschen Kontrapunktik und den musikalischen Formen der Wiener Klassik. Erst die Nachwelt, allen voran Arnold Schönberg hat erkannt, dass Brahms mit der Besinnung auf überlieferte Kompositionstechniken, ihrer Kombination und Neubelebung das Tor zur Musik des 20. Jahrhundert öffnete.

Nicht minder fremd war Brahms der romantische Virtuosenwahn: in seinem Violinkonzert steht kein exzentrischer Teufelsgeiger auf der Bühne, sondern ein Musiker, der sich bescheiden in den Kontext des symphonischen Klanges einfügt und am komplexen motivisch-thematischen Geschehen teilnimmt. Man könnte das Violinkonzert auch als Symphonie mit obligater Violine auffassen: Soloinstrument und Orchester stehen einander nicht kontrastierend gegenüber, sondern beteiligen sich gleichberechtigt am musikalischen Verlauf. Pablo de Sarasate hat es deshalb als „Konzert gegen die Violine“ diskreditiert, Claude Debussy meinte gar, das Violinkonzert op. 77 halte das „Monopol der Langeweile“. Die Musikwissenschaft hingegen hat Brahms Gestaltung der Solistenrolle als „bürgerlich-demokratisch“ beschrieben und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.

© 2000 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Programmheft der Berliner Philharmoniker, 2000)

Franz Adolf Berwald und Heitor Villa-Lobos

Lexikoneinträge in Ingeborg Allihn (Hrsg.): Kammermusikführer. Metzler, Stuttgart und Bärenreiter, Kassel 1998.

Informationstext von Bärenreiter:

„Der ‚Kammermusikführer‘ informiert ausführlich über die wichtigsten Komponisten und Werke der Gattung seit Joseph Haydn. Alphabetisch angelegt, behandelt er 145 Komponisten und dokumentiert auf diese Weise die Vielfalt und den Wandel des kammermusikalischen Repertoires.“

Zur Publikation auf der Website von Bärenreiter

Mozarts Bassarien

Bestellt, bezahlt und aufgeführt

Mozarts Bravourarien für Bass

Man stelle sich vor: ein Komponist unserer Tage schreibt ein bedeutendes Werk für Gesangssolisten und Orchester. Doch gleich die Berliner Erstaufführung droht zu platzen. Grund: die Sänger sind mit ihren Partien unzufrieden. Viel zu hoch, jammert der Baß, viel zu wenig Koloraturen, findet die Sopranistin, und ein geeigneter Tenor für die schwierige Partie lässt sich erst gar nicht auftreiben. Also beauftragt man den Dirigenten – wohlgemerkt, nicht den Komponisten – die originalen Partien der Sänger kurzerhand zu streichen und neue zu schreiben, ganz nach Wünschen und Können der Sänger, versteht sich.

Heute käme niemand auf die Idee, so zu verfahren. Zu Mozarts Zeit aber war diese Praxis gang und gäbe. Den überwiegende Teil seiner Konzertarien schrieb Mozart bestimmten Sängern „auf Bestellung“ in die mehr oder weniger geläufige Gurgel, oft dienten sie als „Ersatzteile“, die in Opern anderer Komponisten einmontiert wurden. Im 18. Jahrhundert fand es niemand anstößig, auf diese Weise in die Substanz eines fremden Werkes einzugreifen. Dafür sind der damalige Status des Komponisten und die Auffassung vom Werk verantwortlich: Der Typus des emanzipierten Künstlers, der seine Werke unabhängig von äußeren Anforderungen schöpft, existierte noch nicht. Erst Ende des 18. Jahrhunderts kam das Konzept des „Originalgenies“ auf, das in seinen Werken „sich selbst“ ausdrückt. Erst in dieser Zeit entstand die Deutung des Kunstwerks als in sich vollendetes, unantastbares Produkt eines individuellen schöpferischen Willens.

Zu Mozarts Zeit hingegen bestimmten die Rahmenbedingungen der Aufführung maßgeblich die Gestalt des Werkes; gegebenenfalls wurde ein bereits vorliegendes Werk vorhandenen Umständen angepaßt. In aller Regel schrieben Komponisten für konkrete Anlässe, das konnte ein bestimmtes Konzert, der Geburtstag eines Fürsten oder, bei Mozart ist das bei vielen Werken der Fall, die Bewerbung um eine Anstellung sein, für die man Glanzstücke brauchte. Den Löwenanteil seiner Arbeit machten Kompositionsaufträge aus: Mäzene bestellten Stücke für ihre mu-sizierenden Töchter, Fürsten Opern für ihre Hoftheater, Sänger ließen sich Arien schreiben, mit denen sie ihre Virtuosität präsentieren konnten. So entstanden auch die Konzertarien des heutigen Abends.

„Rivolgete al lui lo sguardo“ KV 584 plante Mozart als Paradestück für den italienischen Baßbariton Francesco Benucci, der als Guiglielmo in der Oper „Cosi fan tutte“ singen sollte. Mozart tauschte es vor der Aufführung durch eine kürzere Arie; er fürchtete, die ausgedehnte Szene könnte den Handlungsablauf des ersten Aktes abbremsen. Ein typisches Beispiel für die Kompositionspraxis des 18. Jahr-hunderts sind Rezitativ und Arie „Cosi dunque tradisci“ KV 432. Der renommierte Bassist Karl Ludwig Fischer bat Mozart, ihm eine besonders eindrucksvolle Arie für die bevorstehende Wiener Aufführung von „Temistocle“, eine Oper des Komponisten Bernasconi, zu schreiben. Mozart schätzte den Sänger, dessen gewaltigen Baß er schon für Osmin in der „Entführung aus dem Serail“ eingesetzt hatte, und komponierte eine der opera seria von Bernasconi angepaßte, düstere f-Moll-Szene. Seine letzte Konzertarie für einen Baß „Per questa bella mano“ KV 612 schrieb Mozart für „Herrn Görl und Pirschlberger“, also den Sänger Franz Gerl, der wenig später sein Sarastro in der Zauberflöte werden sollte, und den Kontrabassisten Friedrich Pischlberger, der mit der anspruchsvollen Instrumentalpartie glänzen sollte. Eine Gefälligkeitsarbeit, den besonderen künstlerische Reiz mag Mozart in der Kombination der beiden dunklen Klangfarben gesehen haben. Über die Flexibilität des Komponisten gibt die Arie „Alcandro, lo confesso“ KV 512 Auskunft. Den Text aus Metastasios Libretto „L’Olimpiade“ hatte er fast zehn Jahre zuvor schon in einer Arie für die Sopranistin Aloysia Weber, seine damalige Angebetete und spätere Schwägerin, verwendet. Nun vertonte er ihn als dramatische Baßarie, wiederum für Karl Ludwig Fischer. Kurz zuvor war der Sänger aus dem Wiener Ensemble entlassen worden, nun brauchte er Paradestücke, mit denen er sich bei Konzerten profilieren und sich neuen Auftraggebern empfehlen konnte. Die scharfen Kontraste in Tempo, Harmonik und Rhythmik, die in der früheren Vertonung für Sopran fehlen, sind ganz den speziellen Wünschen und Bedürfnissen des Interpreten und Auftraggeber geschuldet.

© 1999 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Programmheft der Berliner Philharmoniker Nr. 25, 02.06.1999)

Richard Strauss „Ein Heldenleben“

Dichtung und Wahrheit

Richard Strauss: Ein Heldenleben op. 40

Mit Goethe und Thomas Mann verband Richard Strauss das Bewußtsein, beispielhafte Werke seiner Zeit zu schaffen. Schon der junge Strauss zeigte sich gewiß, mit seinen Kompositionen die künstlerische „Moderne“ zu repräsentieren, ja sogar ein ästhetisches Bild seiner Epoche zu entwerfen. Wie Goethe und Mann neigte er dazu, das eigene Leben zum Kunstwerk zu stilisieren. Seine Existenz richtete er wie diese sorgfältig bürgerlich-saturiert ein, ganz im Gegensatz zu Mahler, Debussy und den „nervösen“ jungen Komponisten seiner Generation: „Ich schreibe an einem Arbeitstisch, der genau so aussieht wie andere Tische, entweder im Hausrock oder auch im englischen Chevioanzug. Ich bin niemals fiebrig erregt und trage mein Haar kurz geschoren.“

Der Erfolg, den die disziplinierte Arbeit des Komponisten hervorbrachte, war enorm. Bereits als junger Mann verfügte Strauss über konkurrenzloses Ansehen, mit dreiundzwanzig Jahren hatte er ein eigenes Werk (Aus Italien op.16) am Pult der Berliner Philharmoniker dirigiert, mit zweiunddreißig war er Hofkapellmeister in München geworden. Im Jahr 1898 trat Strauss mit vierunddreißig Jahren die Nachfolge von Felix Weingartner als Erster Preußischer Hofkapellmeister an der Hofoper Unter den Linden Berlin an. Der äußerst komfortable Vertrag sicherte ihm ein Jahresgehalt von zwanzigtausend Mark und drei Monate Urlaub zu, Bedingungen, unter denen die wenigsten Kapellmeister in Europa arbeiten konnten.

Die stolze Selbstsicherheit als Künstler, das ausgeprägte Bewußtsein der eigenen Bedeutung hatten dazu beigetragen, daß Strauss seine Person, sein Leben und Erleben zum erklärten Sujet mehrerer Kompositionen machte. Nicht künstlerische Reflexion, sondern das immense Bedürfnis nach Selbstdarstellung scheint Werke wie die Tondichtungen „Ein Heldenleben“ op. 40 und „Sinfonia domestica“ op. 53 motiviert zu haben. Bei den Zeitgenossen und der Nachwelt sind sie auf Kritik gestoßen: Wilheminische Denkmalssucht und kraftstrotzende Egozentrik warf man ihm vor. Die Vorbehalte gegen das autobiographische Programm des „Heldenlebens“ zogen dessen ästhetische Verurteilung nach sich. Zwar wiesen seine Apologeten auf Äußerungen des Komponisten hin, in denen Strauss sich gegen den Eindruck verwehrt, der porträtierte Held sei er selbst. Doch das Verhältnis zwischen dem Erlebten, Bekenntnishaften und dem Allgemeinem, Exemplarischen im „Heldenleben“ bleibt auch in den Auskünften des Komponisten unklar. Zwei Tage nach der Berliner Erstaufführung berichtet Strauss am 24.3.1899 dem Vater: „Von der Kritik bis jetzt Lokalanzeiger und Vossische Zeitung gut, die übrigen spuken Gift und Galle, hauptsächlich weil sie aus der Analyse zu ersehen glauben, daß mit den recht häßlich geschilderten ‚Nörglern und Widersachern‘ sie selbst gemeint seien und der Held ich selbst sein soll, was jedoch nur teilweise zutrifft.“

Immerhin teilweise also. Natürlich muß man die Überschriften kennen, die dem „Heldenleben“ erst unmittelbar vor der Uraufführung beigegeben und vom Verleger in die Partitur übernommen wurden; ohne ihre Wegweisung wird man auch im zweiten, dritten und fünften Teil kaum eine unmittelbare Verknüpfung mit Ereignissen und Elementen aus dem Leben des Komponisten heraushören. Strauss selbst hat nie bestritten, seinen Kritikern mit dem zweiten Teil „Des Helden Widersacher“ ein Denkmal gesetzt zu haben. Schon im „Don Quixote“ op. 35 hatte er die Rezensenten als Herde blökender Hammel karrikiert. Nun kommen sie „sehr scharf und spitzig, schnarrend, zischend“ daher, in einem Holzbläsersatz, dem sich die Blechbläser mit (im reinen Tonsatz verbotenen) leeren Quinten anschließen. Der dritte Satz porträtiert, auch dazu hat sich der Komponist bekannt, seine kapriziös-impulsive Ehefrau Pauline de Ahna. Strauss beschreibt sie als „sehr komplex, sehr Frau, etwas pervers, etwas kokett, niemals sich selbst gleich, in jeder Minute verschieden von dem, was sie in der Minute vorher war“. Die Vortragsbezeichnungen für die Solovioline nennen weitere Charakterzüge der „Gefährtin“: „liebenswürdig, lustig, zornig, schnell und keifend, zart und liebevoll“. Und schließlich der fünfte Teil. Unter der Überschrift „Des Helden Friedenswerke“ ruft Strauss eine ganze Reihe seiner eigenen Werke in Erinnerung. Mittels Zitattechnik läßt er Figuren seines Schaffens am Hörer vorbeiziehen, Macbeth und Don Juan, Till Eugenspiegel und Zarathustra, schließlich Don Quixote.

Der Verdacht, mit dem Helden habe Strauss in einer denkmalfreudigen Zeit sich selbst verewigt, lag und liegt nahe. Von besonderem Interesse sind die autobiographischen Mitteilungen allerdings nicht, und daß der heroische Feuerkopf des „Heldenleben“, dessen Kampf in Entsagung und Weltflucht mündet, nicht viel mit der Person Richard Strauss gemein hat, läßt Werk und Schöpfer nicht im besten Licht erscheinen.

Vielleicht kommt man dem Werk näher, wenn man den Begriff des Autobiographischen genauer faßt. Autobiographische Wahrheit ist nicht identisch mit historischer Wahrheit, Goethes Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“ deuten bereits im Titel darauf hin. Autobiographie ist die bewußte Konstruktion eines für die Öffentlichkeit entworfenen Selbstbildes. Allein durch Auswahl bestimmter Themen, Ereignisse, Empfindungen verfälscht sie die Wahrheit; oft beschreibt sie, „wie es hätte sein sollen“, nicht, wie es tatsächlich war. Aus dieser Perspektive verschwindet die Kluft zwischen der historischen Person Strauss und ihrer Darstellung im „Heldenleben“. Nur sehr mittelbar ist der Protagonist mit seinem Schöpfer verwandt: Strauss entwarf ihn als Verkörperung eines idealen Menschen, der „durch Anstrengung und Entsagung die Erhebung der Seele anstrebt“. Er gewinnt den unabwendbaren Kampf mit künstlerischen Widersachern, sein eigentliches Lebensziel aber sind „Friedenswerke“, die er im zurückgezogenen bürgerlichen Idyll schafft. Das klassische Konzept eines ethischen Künstlertums hat Strauss in der eigenen Existenz zu realisieren versucht, es war ihm Leitbild und Utopie. Diese Deutung bestätigt eine Äußerung des Komponisten aus dem Jahr „Ein Heldenleben zeigt uns nicht eine einzelne poetische oder historische Figur, sondern vielmehr ein allgemeineres und freieres Ideal eines großartigen und mannhaften Heroismus – gemeint ist nicht der Heroismus, an den man einen Allerwelts-Maßstab des Heldenmutes anlegen kann, mit materiellen und anderen äußerlichen Belohnungen, sondern derjenige Heroismus, der die inneren Kämpfe des Lebens beschreibt und der durch Anstrengungen und Entsagung die Erhebung der Seele anstrebt.“

© 1999 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Programmheft der Berliner Philharmoniker, 11.04.1999)

„Ich war die Prinzessin mit der Goldkante“

Und lernte: Karneval ist, wenn man Bonbons wirft und trotzdem weint

Damals, im Winter 1983, war ich siebzehn, picklig, flach wie eine Dachlatte und Karnevalsprinzessin in Obereidorf. So hieß unsere Kleinstadt. Sie lag ganz nah bei Köln, der Hochburg des rheinischen Karnevals, und wer die tollen Tage nicht überhaupt dort verbrachte, versuchte in Obereidorf so närrisch zu sein, wie es eben ging. Nur der Zahnarzt und der Direktor des Mädchengymnasiums waren Karnevalsmuffel, beide flüchteten nach Bad Ischl und hielten sich auch sonst vom gesellschaftlichen Leben in Obereidorf fern.

Das gesellschaftliche Leben spielte im Kaninchenzüchter-, Schützen,- Gesangs- und Turnverein. Und natürlich im Festausschuß, der sich das Jahr über mit den Vorbereitungen des Obereidorfer Karnevals beschäftigte. Jeden Montagabend trafen sich seine ausschließlich männlichen Mitglieder, übrigens personalidentisch mit dem Gemeinderat und dem Kirchenvorstand, in der Gaststätte „Zum Halven Hahn“. Hier wurde bei Kölsch und Mettbrötchen die Wagenfolge im Rosenmontagszug und das Prinzenpaar der kommenden Session so heißt im Rheinland die Karnevalszeit ausgeklüngelt.

In jenem Jahr ergab es sich, daß der Kolpingverein sein fünfzigjähriges, die Handwerksinnung ihr hundertjähriges Bestehen feierten und beide beanspruchten, das Prinzenpaar zu stellen. Nach zähen nächtlichen Verhandlungen einigte man sich auf folgenden Kompromiß: Prinzessin wurde die einzige Tochter des Kolpingvereinsvorsitzenden, das war ich. Und zum Prinzen wählte man den ältesten Sohn des Innungsmeisters, Ernst hieß er und ging in meine Klasse.

Ernst war pummelig und zweifacher Sieger bundesweiter Mathe-Olympiaden, hatte störrisches rotes Haar und vorstehende Schneidezähne, vielleicht lachte er deshalb nie. Es war klar, daß Ernst der Erste (und bis heute einzige) alles, was mit seinem Prinzenamt verbunden war, hassen würde, also auch mich. Tatsächlich hat er während der gesamten Session nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen.

Aber noch freute ich mich. Von klein auf war ich mit meinem Vater, Mitglied der Prinzengarde „Blaue Funken“, im Festausschußbus von einem der winzigen Vororte zum nächsten, von einer Karnevalssitzung zur anderen gefahren, mit zotigen Reden, Tanzmariechen und, als Höhepunkt, dem Auftritt des Obereidorfer Prinzenpaares inklusive Prinzengarde und Festausschuß. Ich mußte hinten im Saal warten, durfte Limo trinken und so viel Würstchen mit Kartoffelsalat essen, wie ich konnte.

Leicht kamen acht oder zehn immergleiche Auftritte an einem Abend zusammen: Ankunft im Saal des Schützenheims in Mierscheid, raus aus dem Bus, Einzug des Prinzenpaares, Ansprache des Prinzen, Schunkeln, Auszug, rein in den Bus, weiter nach Seelscheid. Ich liebte die alkoholschwere Luft in den Sälen, die Musik, die Gardisten in ihren historischen blau-weißen Uniformen, am meisten aber das märchenhafte Kostüm Ihrer Herrlichkeit der Prinzessin aus schwerem, schwarzem und goldenem Brokat. Ihrer Herrlichkeit Aufgabe bestand darin, zu winken, lieblich zu lächeln und den jeweiligen Mitgliedern des Elferrates (oft war es aus Personalmangel nur ein Dreier- oder Viererrat) herzhafte Küsse zu verpassen. Der Trick dabei war, den Kopf im letzten Moment zur Seite zu drehen und auf diese Weise dem Zwiebel-Underberg-Atem zu entgehen.

So hatte ich in jenem Winter 1983 ziemlich deutliche Vorstellungen davon, was man von mir erwartete, und, wie gesagt, ich freute mich. Ich würde strahlend Tausende von Orden, Bützjes und Strüßjen (Blechmedaillen, Küsse und Blumensträuße) verteilen, ich war bereit, mein zipperliges Haar zu Korkenzieherlocken zu drehen, die Turnschuhfüße Größe einundvierzig in winzige Lackpumps zu zwängen, jawohl, ich würde beim Prinzenempfang des Bundeskanzlers die Tollste aller Tollitäten sein, Ihre Lieblichkeit Christiane I.

An einem Freitag fand die erste Kostümprobe statt. Mein Prinz und ich wurden in getrennten Räumen (es waren die Klassenzimmer der 4a und 4b der katholischen Grundschule Obereidorf) von den ehrenamtlichen Gewandmeisterinnen angekleidet. Sie befreiten Reifrock, Kleid, Kragencape und Schärpe aus den Plastiksäcken, ich weiß nicht, ob ich vor Kälte zitterte oder vor Ehrfurcht, als mir zwei Paar Hände das Kostüm vorsichtig überzogen. Das Kleid war zu eng und mindestens zwanzig Zentimeter zu kurz. Für meine Vorgängerin, Ihre Anmutigkeit Christine V., war es gekürzt und enger gemacht worden, nun saß es an mir wie eine schwarzgoldene Wurstpelle und endete am Schienbein.

Die Krone erwies sich als viel zu groß und rutschte mir bei jeder Bewegung nach vorne über die Augen, um ziemlich schmerzhaft auf meinem Nasenrücken zu landen, noch heute ist dort eine Delle zu sehen. Zum Schluß kam die Schärpe. Komischerweise stand darauf in goldener Zierschrift „Christine VI.“. Offensichtlich war noch keine Zeit gewesen, eine neue mit meinem klangvollen Namen „Christiane I.“ anzufertigen. Die Gewandmeisterin wand sich verlegen: Wegen der leeren Kassen des Festausschusses und der Ähnlichkeit der Namen habe man sich überlegt, die Schärpe vom letzten Jahr zu benutzen und aus V eine VI zu machen. Daran ließ sich auch nichts mehr ändern, Tausende von Orden mit der Aufschrift „Ihre Tollitäten Christine VI. und Ernst I.“ waren bereits gepreßt.

Ich heulte Rotz und Wasser. Meine Mutter kaufte im Obereidorfer Gardinengeschäft drei Meter Goldbordüre, nähte sie in zwei Bahnen am unteren Saum des Kleides fest und brachte es so auf Knöchellänge. Nun sah es allerdings aus wie eine Ado-Gardine (die mit der Goldkante!), jenes Statussymbol der Siebziger, das weißerrieseweiß den Einblick in westdeutsche Wohnzimmer verhinderte.

Meinem Prinzen erging es kaum besser. Unter den gebauschten kurzen Pluderhosen steckten dickliche Beine in viel zu langen weißen Strumpfhosen, die sich an den Fußknöcheln stauten. Beim Gehen gab es ein komisches Geräusch, wenn seine Oberschenkel in den Polyesterstrümpfen aneinanderrieben. Sein Oberkörper steckte prall im schwarzgoldenen Wams, irgendwie sah er gar nicht wie ein stolzer Prinz aus, eher wie eine riesige Biene Maja. Eins war klar: Wir würden das häßlichste Prinzenpaar in der närrischen Geschichte Obereidorfs sein.

Am Karnevalswochenende 1983 regnete es von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch. Meine Augen tränten vom Schnupfen, vom Rauch in den Sälen und vor Wut über Prinz Ernst, der bei jedem unserer Auftritte die letzte und wichtigste Strophe seiner Ansprache vergaß. Ich versuchte sein Versagen durch allergrößten Liebreiz auszugleichen, doch das änderte nichts daran, daß wir als Ernst der Lustige und ihre Reinlichkeit die Ado-Prinzessin in die närrische Historie Obereidorfs eingingen. Meine Klassenkameradinnen, die bei meiner Proklamation vor Neid grün geworden waren, heuchelten jetzt Mitleid und lachten sich hinter meinem Rücken halbtot über mich und meinen verstockten Biene-Maja-Prinzen.

Nur einmal erwachten die Lebensgeister von Prinz Ernst, das war beim Rosenmontagszug, mit beiden Händen schaufelte er wütend Kamellen (Bonbons), Strüßjen, abgepackte Blut- und Leberwürste (eine Spende der Metzgerinnung) aus unserem Prunkwagen, der den krönenden Abschluß des vier Kilometer langen Zuges bildete. Unser Wagen wurde von meinem Onkel mit dem Trecker gezogen und hatte die Form eines riesigen Blütenkelches. Im letzten Moment versuchte der TÜV Rheinland, dem Gefährt die Starterlaubnis zu verweigern, tatsächlich schwankte der sieben Meter hohe Kelch bedenklich, sobald sich jemand oben auf der Plattform bewegte. Prinz Ernst der Lustige und ich wurden angewiesen, möglichst ruhig an den entgegengesetzten Rändern zu stehen und die je fünf Kilo schweren Bonbonsäcke gleichmäßig zu entleeren. Doch Seiner Lustigkeit Prinz Ernst I. gefiel es, von einem Ende des Wagens zum anderen zu rennen, der Kelch wackelte, hüpfend und mit irrem Lachen winkte Prinz Ernst jetzt seinem närrischen Volk zu. Ich glaube, es war alles ein bißchen viel für ihn.

Zum Prinzenempfang beim Bundeskanzler fuhren wir übrigens nicht mehr, ich schämte mich zu sehr, nicht nur für den übellaunigen Prinz Ernst, sondern auch wegen meiner mittlerweile grünblauen, geschwollenen Nase.

Schon eine Woche später hingen zahllose Bilder im Schaufenster des Obereidorfer Photogeschäfts aus, und jeder konnte sie zur Erinnerung bestellen. Auf den meisten sieht man einen kleinen dicken Prinzen, der mit zusammengebissenen Zähnen auf den Boden starrt. Und eine große, schlaksige Prinzessin, das strahlende Lächeln schmerzverzerrt, die Augen von einer straßbesetzten Krone verdeckt.

© 1998 Christiane Krautscheid (Erstabdruck: Berliner Zeitung, 05.02.1999)

100 Jahre Deutsche Grammophon

„Stärkster Ton! Lautester Ton! Natürlichster Ton!“

Harte Platten, keine weichen Walzen: Die Deutsche Grammophon feiert hundert Jahre Musik auf Schallplatte

Der Freiherr von Münchhausen eilte der Zeit voraus. Die großen Menschheitsträume geben den Stoff seiner fabulösen Erzählungen; der vom Fliegen gehört dazu und der Wunsch, den Klang der Töne, die Musik festhalten und der Vergänglichkeit entreißen zu können. In Gottfried August Bürgers Schilderung der Abenteuer Münchhausens berichtet der Held von einem russischen Postillion, der auf winterlicher Fahrt mit aller Kraft ins Horn stößt, ohne einen einzigen Ton herauszubringen. Erst im warmen Gasthaus klärt sich das sonderbare Phänomen auf. „Die Töne waren in dem Horn festgefroren und kamen nun, so wie sie nach und nach auftaueten, hell und klar, zu nicht geringer Ehre des Fuhrmannes heraus.“

Rund hundert Jahre später gelang die akustische Fixierung der menschlichen Stimme. Die Wiedergabe von Musik jedoch war mit Thomas Edisons „Sprechmaschine“, dem per Hand betriebenen Phonographen, zwar möglich, aber unbefriedigend: Jede Unregelmäßigkeit bei der Drehung der Wachswalze machte sich als Tonhöhenschwankung jaulend bemerkbar. Erst 1889 wurde der Phonograph mit Elektromotor entwickelt, der eine gleichmäßig rotierende Bewegung erzeugte. Bei jeder Aufnahme konnte nur eine einzige Walze graviert werden, für jede weitere mußte die Stimme erneut aufgenommen werden eine strapaziöse Aufgabe für den Sänger.

Schon 1887 war es in Washington dem Deutsch-Amerikaner Emile Berliner gelungen, eine entscheidende Schwachstelle des Phonographen von Edison zu beheben: Er verwendete statt der empfindlichen Wachswalzen eine plane Scheibe aus Zinkblech, in deren Oberfläche eine Rille geätzt wurde. Diese Schallplatten nutzten sich bedeutend langsamer ab, brauchten weniger Platz als die voluminösen Wachsrollen und ermöglichten eine geräuschärmere Wiedergabe. Mit dem sogenannten Schellack, einem Ausscheidungsprodukt der Lackschildlaus (eigentlich diente er nur als Bindemittel für die Mischung aus feingemahlenen Mineralien, der zur Herstellung einer Schallplatte Ruß für die glänzende schwarze Farbe beigefügt wurde), fand Berliner das für die Serienproduktion geeignete Material. Sein wichtigster Vorteil war die Möglichkeit, Matrizen herzustellen, von denen beliebig viele Pressungen abgenommen werden konnten. Darin, weniger in der von mehreren Erfindern parallel entwikkelten Aufnahmetechnik, liegt Berliners Leistung. Hartnäckig hatte er seine Vision verfolgt, die Schallplatte zum Massenmedium zu entwickeln, und in einem Schuppen der Telephonfabrik, die sein Bruder in Hannover unterhielt, wurden 1898 die ersten Platten in größeren Stückzahlen produziert.

Es war zugleich das Gründungsjahr der Londoner Schallplattenfirma „Grammophone Company“. Sowohl Platten als auch Grammophone ließ sie nicht in London, sondern bei Emile und Joseph Berliner in Hannover fertigen. Am 6. Dezember 1898, auf den Tag genau 21 Jahre nach Edisons erster Vorführung der Sprechmaschine, wurde die Produktionsstätte als „Deutsche Grammophon Gesellschaft“ ins Handelsregister eingetragen. Im Jahr 1901 wurden an dreißig Pressen täglich rund 9 000 Schallplatten hergestellt. Fünf Jahre später waren es an 200 Maschinen bereits 30 000 Platten, monatlich baute die Gesellschaft 250 000 Grammophone. In der „Phonographischen Zeitschrift“ ließ sie verkünden: „Wir offerieren über 5 000 Aufnahmen in allen Sprachen der Welt! Stärkster Ton! Lautester Ton! Natürlichster Ton! Harte Platten keine weichen Walzen!“ Daß mit Lautstärke und Natürlichkeit geworben wurde, jeder Verweis auf Interpret oder Programm der Aufnahme jedoch fehlte, steckt die Erwartungen des Publikums ab: im Vordergrund standen ganz und gar die technischen Möglichkeiten. Darauf beruhte allerdings auch ihr zweifelhafter Ruf, forciert von der Skepsis gegenüber der „Zaubermaschine“, die eher als Jahrmarktssensation bestaunt als ernst genommen wurde.

Der Eintritt in die Sphäre der Kunst gelang der Schallplatte erst, als namhafte Künstler für Aufnahmen gewonnen werden konnten. Anders als heute war dies ein schwieriges Unterfangen. Nur mit Mühe gelang es, den berühmten Fedor Schaljapin zu überreden. Sein Sträuben gründete in der ganz archaischen Angst, durch die Aufnahme zu verstummen, er fürchtete, die Fixierung der lebendigen Stimme sei ein faustischer Pakt, der mit dem Verlust der Stimme bestraft werden könne. Schließlich sagte Schaljapin zu nicht ohne sich vor jeder Aufnahme zu bekreuzigen. Immer soll er darauf bestanden haben, nur eine einzige Schneiddose (sie wandelt Luftschwingungen in Schallrillen um) zu benutzen, die er mit einem Kreuz versehen und beim Papst persönlich hatte segnen lassen.

Der erste Star der Grammophone Company, der zum Ruhm der Schallplatte ebensoviel beitrug wie die Schallplatte zu seinem, war Enrico Caruso. Im März 1903 nahm er zehn Arien auf. Mit dem internationalen Erfolg dieser Aufnahme war der Grundstein für die Interessengemeinschaft zwischen dem Künstler und seiner Plattenfirma gelegt.

Die Deutsche Grammophon hatte sich immer bemüht, wie die große Konkurrentin, die englische EMI, erfolgreiche Konzert- und Opernkünstler als Schallplattenstars aufzubauen. Geraldine Farrar zählte dazu, Nelli Melba und Adelina Patti. Berühmte Geigen- und Klaviervirtuosen finden sich bis in die fünfziger Jahre allerdings nicht in ihrem Katalog; sie zogen Verträge mit der mächtigen und international operierenden EMI vor. Die Deutsche Grammophon war, das wird angesichts des späteren Erfolges gerne übersehen, in diesen Jahren ein seit der Trennung vom Mutterhaus zwar selbständiges, aber vergleichsweise unbedeutendes Unternehmen.

Begeisterung und Skepsis mischten sich weiterhin in der Rezeption von Musik auf Schallplatte. Im Jahr 1924 beschrieb Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ den ungeheuren Effekt, den das Grammophon bei den Patienten von Haus Berghof, vor allem bei Hans Castorp macht. Hofrat Behrens führt den „mattschwarz gebeizten Schrein“ vor: „ein Instrument, das ist eine Stradivarius, eine Guarneri, da herrschen Resonanz- und Schwingungsverhältnisse vom ausgepichtesten Raffinemang“. Das Staunen ist allgemein, Castorp spürt, hier wird Epoche gemacht, er empfindet sogleich die „bestimmteste Ahnung neuer Passion, Bezauberung, Liebeslast“, die physischen Folgen gleichen jenen eines Trinkgelages. Er macht sich zum Kustos sowohl des Grammophons als auch der stattlichen Sammlung von Schallplatten, hundertvierundvierzig an der Zahl. Je weiter er sich in die Welt der Musik vertieft, desto größer gerät die elitäre Distanz zu den übrigen Patienten, immer stärker wird ihm das Hörerlebnis zum Medium einer geistigen Vergegenwärtigung.

Sowohl in Thomas Manns Beschreibung der nächtlichen Hörandachten Castorps als auch der vitalen Reaktionen der übrigen Zuhörer sie lachen, tanzen und klatschen in die Hände schwingen jene Vorurteile mit, die der Schallplatte in bildungsbürgerlichen Kreisen entgegengebracht wurden. Zwar gestattet die unbegrenzte Wiederholbarkeit des Kunsterlebnisses, sich des eigenen kulturellen Besitzes zu vergewissern: auch Castorp hört bevorzugt und allabendlich aufs neue seine Lieblingswerke. Doch der elitäre Anspruch der Musik wird, da sie jedermann jederzeit zugänglich ist, beschädigt, ihr quasi-religiöser Charakter durch Instrumentalisierung auf dem Zauberberg dient sie als aufmunterndes Therapeutikum profaniert, das musikalische Ereignis seiner Einzigartigkeit, des so nie Wiederholbaren beraubt.

Es war gerade die Unterhaltungsfunktion der Schallplatte, die ihren Aufstieg beflügelte, vor allem, weil sie in jedem Etablissement das beliebte Tanzvergnügen ermöglichte. Verkauft wurde sie in Spielzeug- und Fahrradgeschäften. Teure künstlerische Unternehmungen begünstigten diese Jahre nicht. Schallplattenfirmen produzierten, was raschen kommerziellen Erfolg versprach, neben Unterhaltungsmusik vor allem vaterländische Märsche und Hörbilder. Nach dem Zweiten Weltkrieg mußte auch die Deutsche Grammophon wie andere Firmen ganz von vorn beginnen. Energisch revidierte sie ihre Firmenpolitik, strenge Seriosität und Solidität hieß das Credo. Im Gegensatz zu anderen Firmen wie Columbia oder His Master s Voice verbannte man die Unterhaltungsmusik auf ein eigenes Label (Polydor). Das Klassikprogramm sollte sich als Enzyklopädie der abendländischen Kunstmusik lesen. Noch hatte sieht man von Ausnahmen wie Toscanini ab wenig Bedeutung, wer dirigierte, das Interesse an und der Kult um den Interpreten ist ein Phänomen der jüngeren Plattengeschichte.

Es waren die Jahre der Rückbesinnung auf vermeintlich unbelastete Tugenden und Werte, Bildung und Kultur zählten dazu. Verlage brachten günstige Klassiker-Ausgaben auf den Markt, Buchklubs hatten Hochkonjunktur, und zu der Zeit, als es in England noch üblich war, einzelne Platten einer Opernaufnahme zu verkaufen, ließ die Deutsche Grammophon ganze Reihen von Gesamtaufnahmen produzieren und zu Subskriptionspreisen anbieten. Die Einführung des gelben Firmenetiketts mit der stilisierten Tulpenkrone etablierte ein Markenzeichen der Wirtschaftswunderzeit, das bis heute für Tradition und Seriosität steht, obgleich die Deutsche Grammophon ihren Nimbus als Hüter der klassischen Musik auf Schallplatte längst eingebüßt hat.

Denn auch sie ist von der Krise der Branche betroffen. Bislang besaßen neben den sich wandelnden Bedürfnissen der Hörer die technischen Fortschritte entscheidende Schubkraft für die Phonoindustrie, die Einführung der Langspielplatte, die Erfindung der Stereophonie und schließlich die Umstellung auf digitale Datenträger. Seit 1982 hat es keine bahnbrechende technische Entwicklung gegeben. Der Plattenmarkt ist übersättigt allein zweiunddreißig Interpretationen sämtlicher Beethoven-Symphonien sind derzeit lieferbar , auch große Namen garantieren keinen Verkaufserfolg mehr. Um gut 23 Prozent sind die Umsätze in der Klassikbranche seit 1993 gesunken, ihr Heil sucht sie nun im Weg zurück nach vorn: in der Einschränkung der teuren und schlecht absetzbaren Neueinspielungen zugunsten von Dritt- und Mehrveröffentlichungen älterer erfolgreicher Aufnahmen auf „Compilations“, die als gehobene Unterhaltungsmusik gehört werden können. „Adagio“ hieß der Sündenfall der Deutschen Grammophon, eine Zusammenstellung langsamer Sätze, durch nichts verbunden als die Satzbezeichnung und den Dirigenten Herbert von Karajan, mit dem die Deutsche Grammophon den profitabelsten Bund schloß. Die erhoffte Lenkung auf den seriösen Katalog blieb bei diesem und allen nachfolgenden Projekten aus: wer Pavarottis „Nessun dorma“ liebt, kauft deshalb noch lange keine Gesamtaufnahme der „Turandot“. Gehörte die Deutsche Grammophon nicht zum PolyGram Konzern, der mit den „3 Tenören“ Milliarden umsetzt und auf diese Weise unrentable Klassik-Produktionen mit finanzieren kann, die Firma könnte in diesem Jahr kaum so selbstbewußt ihr hundertjähriges Jubiläum feiern.

Heute hat jeder die Möglichkeit, digitale Tondokumente auch aus dem Internet mit eigenem Brenner auf CD zu kopieren, zu lächerlichen Kosten und ohne irgendeinen Qualitätsverlust. Das wird das Monopol der Plattenfirmen brechen. Fast ein Jahrhundert hat deren Macht auf dem technischen Fortschritt beruht; in Zukunft geht davon die größte Gefahr für sie aus.

© 1998 Christiane Krautscheid / Albiez (Erstabdruck: Berliner Zeitung, 12.12.1998)

 

Richard Wagner: Tristan und Isolde

„O sink hernieder, Nacht der Liebe“

Tristan und Isolde – Der Mythos von Liebe und Tod

Aus dem Vorwort von Claudio Abbado:

„Der vorliegende Band ‚O, sink hernieder, Nacht der Liebe‘ betrachtet den Mythos Liebestod aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. So führt uns Peter Wapnewski zu den Quellen des Motivs, Volker Mertens erzählt von Feen und Fabelwesen, deren Liebe zu einem Menschen tödlich endet, Nike Wagner untersucht den Liebestod aus psychoanalytischer Sicht. Gedichte, Bilder und Texte ergänzen die Beiträge zu einem anregenden Lesebuch.“

Inhalt:

  • Claudio Abbado: Grußwort
  • Peter Wapnewski: Das traurige StückPeter Wapnewski: Das traurige Stück
  • Iso Camartin: „Gewürzter Wein“
  • Sebastian Urmoneit: Vom Sterben um der Liebe willen – vom Lieben um des Sterbens willen
  • Dieter Schnebel: Thanatos – Eros
  • Nike Wagner: „Dem Traum entgegenschwimmen“ Zu Richard Wagners „Tristan und Isolde“
  • Hermann Wiesler: „Treu bis in den Tod“ Bilder der Liebe zum Tod
  • Volker Mertens: Undine, Melusine, Isolde: die Frauen aus der Anderswelt
  • Silke Leopold: Et in amore ego – Liebe und Tod der Barockoper
  • Elmar Budde: Musikalische Topoi von Liebe und Tod – zu Richard Wagners „Tristan und Isolde“
  • Habakuk Traber: „Das Nusch-nuschi“ – eine Tristan Parodie

Herausgegeben von Sabine Borris und Christiane Krautscheid, Berliner Philharmoniker Zyklus 1998/1999. Parthas Verlag Berlin, 11/1998, 122 Seiten.

Der Wanderer

„Und jeder Schritt des Wandrers ist bedenklich“

Eine Wanderung durch die Motivgeschichte

O wandern, wandern meine Lust!
Herr Meister und Frau Meisterin
laßt mich in Frieden weiterziehn und wandern!
(Wilhelm Müller)

Von wegen Wanderlust – einen schönen Schwindel hat der Dichter der Nachwelt da aufgetischt. Jener fröhlich wandernde Müller ist eine freie Erfindung der Kunst, der Literatur vor allem. Mit den historischen Handwerksburschen auf der Walz hat der Mythos, der den Wanderer und die Kulturpraxis des Wanderns umgibt, nichts gemeinsam, im Gegenteil: bis weit in das 19. Jahrhundert hinein fehlte dem „Unterwegs-Sein“ jeder Hauch von Romantik. Viele Berufsgruppen waren aus ökonomischem Zwang auf ständige Fußmärsche von Ort zu Ort angewiesen. Tagelöhner und Kleinhändler, Spielleute und fahrende Künstler mußten sich Kundschaft oder Arbeitgeber erwandern. Gerade die Handwerksburschen waren keineswegs aus Spaß an der Freude auf der Walz, wie manches romantische Volkslied glauben machen will. Sie folgten einfach den zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert geltenden Zunftregeln, die eine mehrjährige Lehrzeit außerhalb des Heimatbezirkes vorschrieben. Ihnen ging es nicht um das Unterwegssein, sondern um das Ankommen. An einem Ort, der Arbeit und Einkommen sicherte.

Der singend wandernde Müller ist das markanteste Beispiel jener romantischen Verklärung der Wanderschaft, die nachhaltige Spuren in unserem Bewußtsein hinterlassen hat. Beim Stichwort „Wanderer“ haben wir unwillkürlich Schuberts Lieder im Ohr, Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ vor Augen, Eichendorffs „Taugenichts“ im Sinn. Instinktiv denken wir an einen jungen Mann – Damen gehen allenfalls spazieren. Er trägt rustikale Bekleidung, mit Wanderschuhen und leichtem Gepäck. Vielleicht einen Stock in der Hand. Und natürlich bewegt er sich nicht zwischen Fabrikhallen und Häuserschluchten, flaniert nicht durch die Straßen einer Großstadt, sondern durchwandert die Wälder und Auen einer unberührten Naturlandschaft.

Der spezifisch deutsche Topos des romantischen Wanderers war so bildmächtig, daß er eine vielfältige, bis in die Antike zurückreichende Tradierung des Mythos in der europäischen Kulturgeschichte überlagern und unser Bild vom Wanderer bis heute konturieren konnte. In der emblematischen Überlieferung aber stand das Bild je nach Epoche, nach Zeitgeschmack und Befindlichkeit für Sehnsucht, Freiheit, Suche, aber auch Ruhe- und Heimatlosigkeit. Vor allem wurde Wanderschaft immer wieder als Sinnbild des Lebens gedeutet, der Mensch als homo viator, als Wanderer auf dem Weg ins Jenseits: das Auf und Ab des Lebens gleicht den Höhen und Tiefen, den Freuden und Nöten einer Wanderung. Sie hält die prachtvolle Schönheit der Natur, Gastfreundschaft fremder Menschen und Augenblicke der Besinnung, manchmal aber auch Gefahr und Bedrängnis bereit. Wiederkehrende Stationen auf dem Weg des Wanderers sind Ausfahrt, Wegsuche und Einkehr. Seiner Umwelt gegenüber findet er sich in immer neuen Situationen, durch gesuchte oder zufällige Begegnungen, Ereignisse, Begleiter, durch die fortschreitende Entfernung von der Heimat oder Annäherung an das Ziel. Ihn erwartet das Unbekannte, das er als weltoffenes Wesen bewußt sucht. „Der Mensch hat keine so einförmige und enge Sphäre“, meinte Herder und zielte damit einerseits auf die Befähigung, andererseits auf das Bedürfnis des Menschen, Erfahrungsbereiche außerhalb des unmittelbaren Lebenszentrums zu erobern. Um das Fremde zu erkunden und in der Auseinandersetzung mit dem Fremden sich selbst kennenzulernen.

Immer sind es Menschen mit einer bestimmten Disposition, die sich auf Wander-schaft begeben. Sie alle sind ruhelose Sucher, aus ganz unterschiedlichen Gründen bereit, die Heimat zu verlassen. Motivgeschichtlich bilden sich zwei große Gruppen. Jene Wanderer, die freiwillig, aus Weltneugier und Abenteuerlust frohen Mutes unbeschwert hinausziehen. Ihnen ist das Unterwegssein eine innere Bereicherung, die Bewegung in der Fremde ein Genuß. Und die anderen, die vertrieben wurden, fliehen müssen oder aus innerer Qual, aus verzehrender Sehnsucht nach der Ferne weniger hinaus wollen als vielmehr nicht bleiben können.

* * *

Mit Odysseus begegnen wir dem ersten Wanderer der europäischen Kulturgeschichte. Seine Irrfahrt und die glückliche Wiederkehr hat zahllose Variationen in Epos, Ballade und Roman erfahren. Als Urbilder berichten die Bibel von Kain, der mit Wanderschaft gestraft ist, die jüdische Tradition von Ahasver. Schon diese ersten Wanderer sind unfreiwillig unterwegs, von einer göttlichen Instanz zur Wanderung verurteilt, auf der Suche nach einem Ort, der Erlösung gewährt – der Sonderweg des Pilgers deutet sich an.

Wanderschaft als Weg zur Vollendung – zunächst einer Kunst, später zum vollendeten Menschsein –, diese Deutung erwies sich als besonders fruchtbar für die Literatur. Das mittelalterliche Epos etabliert wandernde Helden, die ihren „hohen muot“ in Kämpfen und Proben unter Beweis stellen müssen. Parzival zieht als „tumber tor“ in die Welt hinaus und wächst durch die Begegnung mit Leiden, durch Irrtümer und Zweifel weit über die erstrebte höfisch-ritterliche Meisterschaft hinaus. Im Jahrhundert des Humanismus, mit der Blüte der Handwerkszunft, avanciert der schon erwähnte wandernde Geselle zur literarischen Figur. Er zieht aus, um Erfahrungen zu sammeln, sein Können bei fremden Meistern zu perfektionieren, sein Wissen an berühmten Schulen zu erweitern. Zur gleichen Zeit kommt der Schelmenroman in Mode. Als Protagonist betritt ein jugendlicher Schalk vom Schlage Till Eulenspiegels die literarische Bühne, der von einem Ort zum andern wandern muß, um den Folgen seiner Übeltaten zu entgehen. Noch in der Barockdichtung spielt die Figur dieses unfreiwilligen Vagabunden eine wichtige Rolle. Die Tradition des Pikaro-Romans lebt weiter, und mit ihr der skrupellose Schelm aus dem Volke, der sich gerissen durch die Welt schlägt. Allerdings bleibt die Wanderschaft auch weiterhin Chiffre für Unbeständigkeit und Verwirrung: wohin sich Grimmelshausens Simplicissimus auf seiner Wanderschaft während des Dreißigjährigen Krieges auch wendet, überall trifft er auf Tod, Laster und Verbrechen.

Die entscheidende Wende kommt im 18. Jahrhundert. Das entstehende und aufstrebende Bürgertum entdeckt die Wanderschaft als freiwillige Unternehmung und als lehrreiche Freizeitbeschäftigung. Wandern erhält eine neue und bis heute tragfähige Bedeutung: das Individuum sucht aus eigenem Antrieb außerhalb seines heimatlichen Lebensraumes nach Bildungskräften, nicht um einer Kunst oder des Broterwerbes willen, sondern um sich selbst zu erproben und zu vervollkommnen. Sinne und Erfahrung werden zur Quelle der Erkenntnis; die Begegnung mit der Natur, mit fremden Gegenden und Menschen leistet objektiven Zugewinn für das Weltverständnis. Es ist die große Zeit des Bildungsromans. Und wer sich bilden will, muß die vertraute Heimat verlassen. Als erster läßt Karl Philipp Moritz seinen Anton Reiser, dessen Name Programm ist, unstet von einem Ort zum anderen ziehen. Ein ambulantes Schulzimmer hat er bei sich, exakte Wanderkarten, ein tragbares Tintenfaß und das Oktavheft, in dem das Geschaute schriftlich fixiert, geordnet und bewahrt wird. Goethes Wilhelm Meister folgt ihm auf dem Fuß: die Wanderung ist am Ende des Jahrhunderts als das pädagogische Instrument zur bürgerlichen Charakterbildung etabliert.

* * *

Die Wanderjahre sind nun angetreten,
Und jeder Schritt des Wandrers ist bedenklich.
(Johann Wolfgang von Goethe)

Die eigentümliche Doppelnatur des Wanderns – Erkenntnisgewinn und physische Gefährdung – war dem Dichter Goethe aus eigener Erfahrung vertraut. Ein ganzes Leben lang hat er ausgiebige Wanderungen unternommen, darunter alleine drei Gotthard-Besteigungen. Sein dichterisches Werk erfaßt alle typologischen Spielarten des Wanderns, vom ziellosen Schweifen über Flucht bis hin zur Auswanderung ganzer Gesellschaften. Seit den Jugendjahren bekennt und literarisiert Goethe immer wieder die innere Zerrissenheit zwischen dem Bedürfnis nach bürgerlicher Häuslichkeit und dem Fluchtreflex in die Ferne. Er selbst flüchtet sich mehrfach vor Bindungen in ausgedehnte Wanderschaften, vor einer drohenden Ehe in die Schweiz, später vor den beengenden Weimarer Verpflichtungen nach Italien. Und dennoch läßt er seinen Werther bekennen: „So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande, und findet in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten Welt vergebens sucht.“

In Weimar, in der bewußten Beschränkung auf die bürgerliche Existenz, gewinnt das Motiv neue Konturen. Der Geheimrat wandert immer noch gerne und weit, und gemeinsam mit Herzog August werden Fußmärsche von beeindruckender Dauer und beachtlichem Schwierigkeitsgrad unternommen. Auslösendes Moment ist die Suche nach Konfrontation mit der Welt. Die empfangenen Eindrücke bereichern und bestätigen das Weltbild der Wanderer im bürgerlichen Zeitalter. Nun zieht Wilhelm Meister in seinen Lehrjahren guten Mutes hinaus, um die Kunst des Lebens zu erlernen; jedes Irren führt ihn auf geheimnisvolle Weise näher ans Ziel. Der späte Goethe, der Europa im Kriegstaumel erlebt, verwendet auffallend häufig die Motivvariante der unfreiwilligen Wanderung. Wilhelm Meisters Wanderjahre zeigen, ebenso wie die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, eine ganze Gesellschaft in Bewegung, mobilisiert, entwurzelt. Seine literarischen Wanderer – und mit ihnen der Dichter selbst – vollziehen nun eine geistige Flucht aus der politisch, gesellschaftlich oder persönlich erschütterten Welt in die Sphäre der Kunst, der Poesie. Sie gewährt Geborgenheit, Kontinuität, Kultur, die Rettung jener klassischen bürgerlichen Ideale, die im zersplitterten und von Kriegen zerstörten Europa ihre Verbindlichkeit zu verlieren drohen.

* * *

Welche Welten entwickeln sich im Gemüte, wenn die freie Natur umher
mit kühner Sprache in uns hineinredet, wenn jeder ihrer Töne
unser Herz trifft und alle Empfindungen zugleich anrührt!
(Ludwig Tieck)

Die Wanderungen der jungen Romantiker nehmen eine andere Richtung. „Nach innen führt der geheimnisvolle Weg“, heißt die Parole bei Novalis. Nicht objektive Welterfahrung, sondern subjektives Sich-Finden in der Natur, die zum Spiegel des eigenen Innern wird. Der Wanderer ist jetzt die Personifizierung romantischer Sehnsucht nach dem Unendlichen. Und zur unbestimmten Sehnsucht paßt das Wandern ins Blaue besser als eine zielgerichtete Fahrt. Deshalb unternimmt Eichendorffs Taugenichts eben keine Bildungsreise nach Italien, und die ausgedehnten Wanderungen der Freunde Tieck und Wackenroder am Rhein haben kein festes Ziel wie noch Seumes berühmter Spaziergang nach Syrakus. Der romantische Wanderer ist immer auf der Suche: nach einem unbekannten Glück, nach einer entfernten Geliebten, einem Seelenfreund. Ist er fündig geworden, sehnt er sich danach, erneut auszuziehen. „Sehnsüchtig sah ich jedem Wandersmann nach, der auf der Landstraße vorüberzog, wie wohl ist Dir, sagte ich, daß Du Dein ungewisses Glück noch suchst! Ich hab‘ es gefunden“, heißt es in Franz Sternbalds Wanderungen von Ludwig Tieck. Die Sehnsucht nach dem Fremden rührt aus einer Spannung im Innern des Menschen, sie ist äußere Signatur einer Suche nach dem Selbst, dem Sinn der Existenz. Gleichzeitig wird als eigentliches Ziel der Wanderung der Tod geschaut: Bei Novalis antwortet Heinrich von Ofterdingen auf die Frage, wohin die Wanderschaft führe: „Immer nach Hause“, und der wandernde Sänger in Müllers Winterreise klagt: „Eine Straße muß ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ So mischen sich auch pessimistische Töne in das romantische Bild. Wem es kalt ums Herz ist, dem erscheint die Landschaft trüb und trostlos, die Menschen feindlich. „Und was sie reden, tauber Schall, ich bin ein Fremdling überall“, heißt es in einem Lied des Dichters Schmidt von Lübeck als Variation der berühmten Winterreise-Verse „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“.

* * *

Entflohn sind wir der Stadt Gedränge
Wie anders leuchtet hier der Tag!
Wie klingt in unsre Lustgesänge
Lerchengesang und Wachtelschlag!
(Eduard Mörike)

Je trister das wahre Leben, desto unbekümmerter wandern die literarischen Helden geradewegs aus ihm heraus. Sie verlassen die Stadt, das heimatliche Dorf und verzichten auf die Insignien der bürgerlichen Existenz. Wanderstab und Laute statt Haus und Hof. „Das Leben der meisten ist eine immerwährende Geschäftreise vom Buttermarkt zum Käsemarkt; das Leben der Poetischen dagegen ein freies, unendliches Reisen nach dem Himmelreich“, verkündet der Dichter Faber in Eichendorffs Ahnung und Gegen-wart. Wanderschaft wird zum bewußten Affront gegen die häusliche Welt der Philister. „Die Trägen, die zu Hause liegen, erquicket nicht das Morgenrot, sie wissen nur vom Kinderwiegen, von Sorgen, Last und Not um Brot“, spottet Eichendorff im Gedicht Der frohe Wandersmann. Der anti-bürgerliche Tonfall schwindet allerdings mit der gescheiterten Revolution von 1848: auch literarisch zieht sich die Nation auf eine biedermeierliche Naturschwärmerei und, wie Thomas Mann bemerkte, „machtgeschützte Innerlichkeit“ zurück. Hier gewinnt der Mythos vom frohen Wandersmann eine ähnliche soziale Funktion wie der deutsche Wald und der Vater Rhein. Man unternimmt Vaterländische Wanderungen, erkundet und entdeckt die Schönheit der deutschen Landschaften. Eine Fülle von Sammlungen verbreitet das entsprechende Liedgut, das Liebe zur Heimat statt Lust auf Revolution wecken soll. Das Volkslied steht hoch im Kurs. Es lebt von der standardisierten Verwendung seiner Motive: fast immer bewegt sich ein wandernder Jüngling in heiter-beschaulicher Natur. Da klappern die Mühlen und rauschen die Wälder, dazu zwitschern bevorzugt Lerchen und Nachtigallen. Kostümzwang herrscht für den Wanderer: als Müllersbursche, Jäger, Vagant oder Spielmann zieht er durch die Lande, immer ein munteres Lied auf den Lippen.

Doch je näher die Jahrtausendwende rückt, umso brüchiger wird das romantisierte Wanderer-Bild. In einer industrialisierten Welt, in den wachsenden Großstädten mit ihren Fabriken, angesichts hungernder Arbeiter und arbeitsloser Handwerker wirkt der fidele Wandersmann fahl und unglaubwürdig. Er überlebt in der populären Gebrauchskunst bis in das Liedgut der Jugendbewegung hinein und nimmt an der Trivialisierung des Brauchtums vom „Wunderhorn“ zum „Wandervogel“ teil. Nicht viel später beginnt der Wanderer zu marschieren.

* * *

Wir ziehen mit den dunklen Flüssen
hinauf, hinab den rauhen Weg.
Nun heißt die Heimat: Wandern müssen.
Die Schatten fallen lang und schräg.
(Rose Ausländer)

Im Roman und in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts hingegen avanciert die Wanderschaft unter umgekehrten Vorzeichen zur zentralen Chiffre für die Suche nach Richtung in einer fremdgewordenen Welt. Der Einzelne irrt einsam, zurückgeworfen auf sich selbst, durch eine diffuse Wirklichkeit: „Seltsam, im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamkeit. Kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein“, formuliert Hermann Hesse die existentielle Erfahrung der Orientierungslosigkeit.

Zwei Weltkriege versetzen ganze Völker in Bewegung, Flucht und Vertreibung zwingen zum Verlassen der vertrauten Umgebung. Heimat wird zum Unwort, weil sie keine Beheimatung mehr birgt. Das Bild des Wanderers wird überblendet vom Bild des Auswanderers. Der alle Hoffnung auf Heimat, freundliche Aufnahme und glückliche Rückkehr fahren lassen muß. Brechts Flüchtlinge sind von Goethes Auswanderern vor allem durch die Aussichtslosigkeit, den Verlust jeder Hoffnung auf Wiederherstellung idyllischer Geborgenheit getrennt. Mit dieser Eintragung im kulturellen Gedächtnis, mit dem Wissen um die unzähligen Flüchtlinge unserer Tage, verdunkelt sich das romantische Wanderer-Bild. Was der Goethe-Zeit die gesellige Kultur, den Romantikern die Natur zu leisten vermochte – die Gegenwart hält keinen geistigen Fluchtpunkt für den Wanderer bereit.

© 1997 Christiane Krautscheid (heute Christiane Albiez; Erstabdruck: „…ich bin ein Fremdling überall.“ Publikation zum Wanderer-Zyklus des Berliner Philharmonischen Orchesters der Saison 1997 / 1998 herausgegeben von Sabine Borris, 11/1997, S. 9-20)

Gesetze der Kunst und der Menschheit

Christian Gottfried Körners Beitrag zur Ästhetik der Goethe-Zeit

Abstract

Christian Gottfried Körner hat in der Literaturgeschichte einen Platz als Brieffreund und Mäzen Schillers gefunden. Dabei wurde unterschlagen, dass er zum Ideenkanon der Goethe-Zeit Aspekte von erheblicher Bedeutung beigetragen hat. Die Rollenverteilung zwischen Körner und Schiller zu Beginn ihrer Bekanntschaft weist Körner eindeutig die Funktion des überlegenen Erziehers, Schiller die des genialischen, aber orientierungsbedürftigen Schülers zu. Er übernahm als Diskussionspartner Schillers in über 700 Briefen eine Bedeutung, die zumindest formal der späteren Rolle Goethes vergleichbar ist. Doch die literaturwissenschaftliche Forschung hat Körners gedankliche Leistung selbst da noch Schiller zugeschlagen, wo sie durch Briefzeugnisse oder Zeitschriftenaufsätze eindeutig als Körners originäres Eigentum nachzuweisen ist. Das gilt für Körners Mitarbeit an den „Philosophischen Briefen“, „Don Carlos“ und „Der Geisterseher“ ebenso wie für jene an den sogenannten Kallias-Briefen. Aber nicht nur die Schiller-Forschung wird in dieser Dissertation korrigiert. Die Einsicht in die einzigartige Verflechtung Körners mit den Autoren sowohl der klassischen als auch der romantischen Literaturszene machte es erforderlich, seine Arbeiten zur Ästhetik auch aus der Perspektive der Goethe-, Schlegel-, Humboldt- und Kleist-Forschung zu analysieren. Körner lebte von 1756 bis 1831. Seine Texte zur Ästhetik dokumentieren die geistesgeschichtliche Entwicklung vom hochaufklärerischen Vernunftenthusiasmus über die klassische Deutung einer zur Humanität erziehenden und die Wahrheit durch Schönheit vermittelnden Kunst bis hin zur romantisch-patriotischen Nationalliteratur. Im Zentrum seines Konzepts steht die Auffassung, dass Kunst nicht trotz, sondern dank ihres autonomen Status automatisch den Wert hat, Vervollkommnung des Betrachters zu bewirken; dieser Wert beruht auf der schönen Form, der Art der Behandlung des Stoffes. Die besondere Erkenntnischance Körners lag aber weniger auf dem Gebiet der reinen Ästhetik als in der Kritik, der Betrachtung von Kunstgattungen bzw. einzelnen Werken unter Anwendung seiner ästhetischen Prinzipien. Deshalb gewinnt seine Konzeption erst in der Applikation auf die einzelne Gattung scharfe Konturen, wie seine Analyse von Goethes „Wilhelm Meister“ zeigt. Körners Text „Über Charakterdarstellung in der Musik“ aus dem Jahr 1795 ist der einzige Aufsatz zur Musik in Schillers Horen und ein singulärer Versuch, aus dem Kreis der Klassiker heraus eine ‚klassische‘ Ästhetik der Instrumentalmusik zu entwickeln. Nach Schillers Tod im Jahr 1805 distanzierte sich Körner nach und nach von der klassisch-idealistischen Kunstauffassung. Er arbeitete mit Heinrich von Kleist, den Schlegel-Brüdern, mit Adam Müller und Ernst Moritz Arndt. Als Vater des Dichters der Befreiungskriege, Theodor Körner, schloss er sich immer stärker der Nationalbewegung an. So begeistert er in den 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts die Autonomie der Kunst und die Formalästhetik verkündet hatte, so eindeutiger schloss er sich ab etwa 1810 einer Instrumentalisierung der Literatur durch Politik an. Körners Credo waren gemeinsame „Gesetze der Kunst und der Menschheit“. Seine idealistische Kunstauffassung musste unweigerlich zu dem internen Widerspruch führen, von dem seine Konzeption wie die gesamte klassische Ästhetik gekennzeichnet ist: so nachdrücklich das hohe Gut der politisch-ästhetischen Kunstautonomie verteidigt wird, so unabänderlich bleibt die Ethik doch immer Vormund der Kunst – insofern diese nur dann als schöne Kunst bestehen kann, wenn sie zur sittlichen Vollendung des Einzelnen und zur „Veredlung der Menschheit“ beiträgt.

© 1998 Christiane Krautscheid / Albiez

Abstract zur Promotion „Gesetze der Kunst und der Menschheit – Christian Gottfried Körners Beitrag zur Ästhetik der Goethe-Zeit“ an der Technischen Universität Berlin (PDF 1,4 MB), 1998 / 2001.

Mehr zu Christian Gottfried Körner in der deutschen Wikipedia

Friedrich Haug: Stützen der Gesellschaft

Von Aerzten, Advokaten, Pfaffen und Literaten

Informationstext Wehrhahn Verlag:

„Haug (1761-1829) war einer der produktivsten Epigrammatiker des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Er wurde in einer Zeit des literarischen Umbruchs geboren. Mit Schiller war er seit dem gemeinsamen Besuch der Lateinschule befreundet und mit Daniel Schubart gut bekannt. Unter diesen und den vielen selbsternannten Genies muß sich Haugs Stellung seltsam ausgemacht haben. Den „reichsten Martial der Deutschen“ hat Jean Paul ihn genannt und damit nolens volens neben der Wertschätzung auch das Wesen der dichterischen Begabung Haugs charakterisiert. Beim Epigrammatisieren legte Haug eine geradezu beängstigende Produktivität an den Tag. Über sechstausend solch kurzer Sinngedichte wurden zu seinen Lebzeiten veröffentlicht – geschrieben aber hat er an die 20.000. Darunter finden sich nur wenige ernste Sinnsprüche, betrachtende Gnome und Reflexionen über das irdische Dasein. Den weitaus größten Anteil haben Spott- und Scherzepigramme: vor allem die Ständesatire, die einzelne Berufsgruppen karikiert, und die Typensatire, die menschliche Schwächen zur Zielscheibe unbarmherzigen Spotts macht. Ärzte, die ihre Patienten nicht kurieren, sondern unter die Erde bringen; Advokaten als Angehörige eines emsigen Geschlechts von Interessenvertretern in eigener Sache, den Blick stets auf die Brieftasche des Mandanten geheftet; eitle Skribenten in der maßlosen Überschätzung ihrer drittklassigen Tintenklecksereien; sittenlose Pfaffen, die Wasser predigen und niemals schlechten Wein trinken würden; pedantische Gelehrte und selbstgefällige Fürsten: die zweifelhafte Gesellschaft, die hier versammelt ist, kennen wir schon. Sie ist fast so alt wie die Menschheit selbst.“

Herausgegeben von Felix Höpfner und Christiane Krautscheid mit einem Nachwort der Herausgeber, Wehrhahn Verlag, Hannover 1997, 64 Seiten mit zahlreichen zeitgenössischen Illustrationen.

Zur Publikation auf der Website des Werhahn Verlags